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Normal will er nicht. Der amerikanische Organist Cameron Carpenter.

© promo

Kultur: Bach im Raumschiff Enterprise

Cameron Carpenters tosendes Konzert

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Was ist über den amerikanischen Organisten Cameron Carpenter nicht schon alles gesagt worden: Ein Revolutionär des Orgelspiels soll er sein, ein Paradiesvogel und ein Ausnahmetalent. Alles das stimmt! Wer Cameron Carpenter am vergangenen Samstag im Nikolaisaal erlebt hat – und das waren einige –, der konnte gar nicht anders als erschüttert nach Hause gegangen sein.

Dass Carpenter ein Exzentriker ist, merkt man nicht nur daran, dass er sich ein wahnsinnig großes, komplexes Instrument ausgesucht hat. Nein, sein ganzes Auftreten ist mehr als schräg, mit seinem angedeuteten Irokesenschnitt und der schwarzen Glitzerjacke mit den passenden glitzernden Schuhen nimmt er ganz zu Recht irgendwo einen Platz zwischen Freddy Mercury und Nigel Kennedy ein. Und seine Orgel ist gigantisch: Wie auf der Kommandobrücke des Raumschiffes Enterprise herrschte Captain Carpenter über die Tasten, Regler und Register. Seine „Touring Organ“, also die Orgel für unterwegs, ist ein Wunderwerk, das explizit auf ihn zugeschnitten wurde, inklusive Computer und einem Audio-System mit zehn Lautsprechern und acht Subwoofern – seine Ausrüstung füllt ganze zwei Lkw-Ladungen und sieht auch dementsprechend beeindruckend aus.

Und was dieser herrlich Irre aus diesem Instrument herausholte, ließ einen blass vor Entsetzen werden. Andächtig saß man im Nikolaisaal wie in einem Dom, ganz von Ehrfurcht ergriffen. Mit zarten, fast verlierenden Anschlägen sorgte der Organist für eine Stille, die einen paralysiert zurückließ: Jetzt bloß nicht husten oder rascheln! Aber das Faszinierende an der Orgel ist ja die Voluminösität, die zwischen zart-leise und gewaltigen Schlägen in die Magengrube hin- und herpendelt. Und was für Klänge dieses Instrument doch erzeugen kann! Wie gezupfte Töne, wie Flöten, wie ein ganzes Orchester – versteckt in einem Instrument, das doch so antik und behäbig daherkommt, es aber überhaupt nicht ist. Die Wirkung einer Orgel ist gewaltig: Für Gottesfürchtige muss sie anno dazumal eine mächtige Waffe gewesen sein.

Carpenter, der schon im Alter von elf Jahren Orgelkonzerte gab, schöpfte aber auch aus einem reichen Repertoire, wobei er sein angekündigtes Programm wild durcheinanderwürfelte und sich nur grob daran hielt. Natürlich spielte er den Orgeldinosaurier Bach mit dem Präludium und Fuge e-Moll (BWV 548) – und hauchte dem Stück gewaltiges Leben ein, ohne das Stück des alten Meisters gegen den Strich zu bürsten, wie man es vielleicht von ihm erwartet hätte. Mag sein, dass Bach vielleicht Angst beim Anblick des jungen Wilden bekommen hätte – Carpenter hatte jedenfalls keine Angst vor Bach, auch nicht vor Marcel Dupré oder Jeanne Demessieux. Aber auch seine eigenen Kompositionen, in die er sogar Popsongs paraphrasierte, beeindruckten in ihrer Komplexität und erschütterten durch eine Wucht, die tief in die Knochen drang.

Wenn man als Zuschauer schon so ein kindliches Vergnügen hatte, wie mag es da dem Organisten gegangen sein? Der rackerte sich ab, als hätte er sechs Arme und vier Beine, ließ die Töne mäandern, holte ein ganzes Orchester aus den Tasten. Wie entrückt stand er nach den Stücken kurz auf, hielt sich demütig die Hände vors Gesicht wie zum Gebet, während ihm tosender Applaus entgegenbrandete, der sich gegen Ende in Standing Ovations entlud. Dieser Exzentriker schien wirklich nicht alle Nadeln an der Tanne zu haben – wahrscheinlicher ist aber, dass er sich selbst in der Rolle des Freaks ganz gut gefiel und sich zum Teil einer gigantomanischen Inszenierung machte. Nein, der Magier Carpenter braucht sich dabei nicht zu verstecken, schon gar nicht hinter seinem monströsen Instrument. Ein beeindruckendes Konzert, was man so schnell nicht vergessen wird. Oliver Dietrich

Oliver Dietrich

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