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Kultur: Bahnhof verstehen

Farm in the Cave aus Tschechien mit Waiting Room

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Es ist schön zu sehen, wie die neue, bescheidene aber hochfunktionale Spielstätte des T-Werks sich auch am dritten Festivaltag von Unidram mit Theaterenthusiasten füllt. Sogar ganze Schulklassen mit ihren Lehrern lassen sich auf die Begegnung mit dem jungen und experimentellen Theater ein. Sollten einige der Schüler nach der Aufführung von „Waiting Room“ der tschechischen Gruppe Farm in the Cave einfach nur „Bahnhof“ verstanden haben, lagen sie ausnahmsweise sogar richtig. Denn tatsächlich hat die Gruppe um den jungen charismatischen Regisseur Viliam Docolomansky einen slowakischen Provinzbahnhof in den Mittelpunkt ihrer dynamischen, kraftzehrenden Performance gestellt.

Von der Station Zilina Zarincie wurden im Dritten Reich Juden in polnische Konzentrationslager transportiert. „Nicht wir haben uns das Thema ausgesucht“, sagte ein Regisseur im anschließenden Publikumsgespräch, der seiner Arbeit jeweils ein profund recherchiertes Konzept zugrunde legt, „das Thema hat sich uns gesucht.“ Die Bahnstation wurde zu einem Kulturzentrum umgebaut, die Gruppe wurde zur Eröffnung eingeladen.

Farm in the Cave war schon beim vergangenen Unidram zu Gast, und bezauberte mit dem Stück „Sclavi“, das später auf dem anerkannten Fringe Festival in Edinburgh und anderswo preisgekrönt wurde. Auch damals wurde Akrobatik und Temperament verknüpft mit einem ebenso sentimentalen wie vergessenen Thema, für das mühevolle Nachforschungen angestellt wurden. Waren es bei „Sclavi“ uralte ruthenische Gesänge, die man aufspürte, sind es nun Schicksale der von Zilina Zarincie Deportierten, für die man Zeitzeugen aufspürte. Diese Begegnungen berührten die Gruppe sehr. „Wir haben einen unangenehmen und schmerzhaften Prozess dabei durchgemacht“, schildert Docolomansky.

Weniger mit Schauspiel denn durch Tanz und präzise Choreographie lösen Farm in the Cave eindrucksvoll die über allem Bilder- und Musiktheater schwebende Verheißung ein, die Geschichte würde sich auch ohne viele Worte erschließen. Auf der schlichten, zum Publikum leicht asymmetrisch gedrehten quadratischen Holzplatte mit zwei Seitenbanden – wie in einer Eislaufhalle –, die als Bühne dient, drängen sich die Bilder, die sich rastlos eine Stunde lang entwickeln, zu einem vielschichtigen Ganzen. Wie das funktioniert, ist fast magisch, und gelingt schon mit dem ersten Bild. Da tanzen zu der Musik des kleinen Salonorchesters zwei Herren in weißen Anzügen aus den 30er Jahren mit einer Frau. Aus dem Walzer entwickelt sich ein Buhlen der Kontrahenten, und bald liegt die Umworbene geschändet auf dem Boden, und wird an ihrem langen Zopf hinaus geschleift. Sie liegt hinter der schweren Stahltür, Zeichen für das Tor zur Geschichte, das oft hermetisch verschlossen ist, oder auch für die Gatter der Viehwagen.

Zeitbezügliche Relevanz erhält die Geschichte, indem sie aus einer Gegenwartsperspektive erzählt wird. Eine Journalistin beobachtet entsetzt sowohl die Bilder aus der Vergangenheit als auch aus dem aktuellen Zeitgeschehen. Jugendliche, die so leidenschaftlich wie gewalttätig sind, slowakische Politiker, die ihren hasserfüllten Nationalismus verbreiten. An Drastik wird nicht gespart: Zwei Leichen werden völlig teilnahmslos von einem Wagen geworfen und an Händen wieder hinausgezogen. Das Publikum fühlt hörbar mit.

„Die alltägliche Gewalt im Verhältnis zwischen Mann und Frau“, meint Viliam Docolomansky, „ist der Samen für das Böse.“ Farm in the Cave arbeitet die Verbindungslinien dieser Gewalt, die aus dem Warteraum eines Bahnhofs zu den NS-Verbrechen wie auch in die aktuelle, nationalistische slowakische Politik führen, mit schweißtreibender Unmissverständlichkeit heraus. Diese Theaterkunst tut weh, weil sie Verbrechen und Schuld im Einst und Jetzt in einer direkten Gleichzeitigkeit vor Augen zu führen vermag. Die so im Spiel entstehende, grausame Räumlichkeit ist besonders schaurig, weil sie durch die Kunst in verführerisch schöner Verpackung daher kommt. Ein vergessener Bahnhof? In dieser Wartehalle wartet die Welt.

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