Kultur: Beeindruckend
Die hohe Lesekunst von Christian Brückner
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Zu dieser besonderen Lesung kam, wer Bückner kennt und Joyce auch wirklich mag. Gut gefüllt, doch nicht überlaufen war es also am frühen Sonntagabend in der Villa Quandt, wo die Begegnung dank des Brandenburgischen Literaturbüros und des Buchladens Wist geschah. Christian Brückner hatte gerade das finale Stück aus James Joyces Erzählsammlung „Dubliners“ von 1907 für seinen Hörbuchverlag „Parlando“ eingelesen. Gut fünfzig Seiten in zwei Stunden – der vielleicht feinsinnigste Vorleser deutscher Zunge ist ja dafür bekannt, nichts auszulassen oder zu ändern, was sein Gefühl und seine Schauspielerseele zu gestalten hätten, deshalb auch dieser frühe Abendtermin.
Nun werden einige „Stephen der Held“ kennen, manche den Gedichtband „Kammermusik“, wenige „Ulysses“. Aber „Die Toten“? Ein bisschen langatmig und umständlich (das meint die Umstände) erzählt der gebürtige Ire darin von einer gutbürgerlichen Ball- und Tischgesellschaft mit Singen, Tanz und Reden mitten in Dublins schneereichem Winter. Mit Witz und Ironie wird man in die Welt der drei Jungfern Morkan eingeführt, trifft auf junge, gesittete Mädchen, lernt den trinkfesten Mister Brown kennen, vor allem aber den Protagonisten Gabriel und seine Gattin Gretta. Nach seiner großen Dankesrede wird sie nämlich plötzlich im oberen Teil des Hauses von einem Lied überrascht, was dem eher drögen Anfang der Erzählung eine zu Herzen gehende Fortsetzung beschert. Diese Melodie erinnert sie ganz unvermittelt an einen ihretwegen gestorbenen Jugendfreund. Plötzlich ist alles anders. Aus der vorgesehenen Liebesnacht des Ehepaares im Hotel wird nichts. Dafür entdeckt Gabriel hinter all seinem körperlichen Begehren, was Liebe wirklich ist.
Christian Brückner, noch zu Kriegszeiten geboren, las und gestaltete diese edle Romanze am Lesepult stehend. Hellwach und freundlich der Blick, viel Spannung im Körper, immer wieder wollte seine ruhelose Rechte noch mal unterstreichen, was seine leicht belegte Stimme bereits an Wundern vollbrachte. Das Leseskript im Querformat, der Ton leise, fast monoton. Brückner gab der vielköpfigen Personage nicht mal immer ein eigenes Profil. Aber das war auch nicht nötig, denn mit einer unglaublichen Sicherheit traf er stets den Kern eines Satzes, und dieser drückte eine Person dann glaubwürdig aus. Seine Gabe ist die hohe Kunst des Modulierens – wie viel davon bringt er eigentlich in einem einzigen Satz von James Joyce (1882-1941) unter? Am Ende brachte er einen so zärtlichen, fast lasziven Ton in den Dialog zwischen Gabriel und Gretta hinein, dass es jedermann ans Herz gehen musste. Er hatte das Publikum durch seine verhaltene Lesekunst und die Bescheidenheit seines Auftritts nach zwei Stunde komplett „in der Tasche“!
„Die Toten“ indes, das waren die Gespenster von gestern, die Lebenden von heute, die Stadt hinter dem Fenster der Morkans. Dublin als Hassliebe des Dichters, nicht aber seines kongenialen Interpreten. Dieser hielt alle literaturwissenschaftlichen Ausdeutungen fern von sich. Nicht goss er Galle über Dublin, nicht Zynismen über die eigentlich liebenswerte Tischgesellschaft samt der altmodernen Tantchen. Ironie, ja, das schon. Das Publikum war begeistert, manchmal wie entrückt. Joyces letzter, auf Gabriel gesetzer Satz, war ja auch zu schön: „Langsam schwand seine Seele, während er den Schnee still durch das All fallen hörte, und still fiel er, der Herabkunft ihrer letzten Stunde gleich, auf alle Lebenden und Toten.“ Gerold Paul
Gerold Paul
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