Kultur: Besessen den Erinnerungen gefolgt
Georg Reinfelder hat das Schicksal flüchtender Juden auf der MS „St. Louis“ rekonstruiert
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Georg Reinfelder hat das Schicksal flüchtender Juden auf der MS „St. Louis“ rekonstruiert Als sich Georg Reinfelder als siebenjähriger Bub auf sein Fahrrad schwang und zur brennenden Synagoge seiner Heimatstadt Bamberg radelte, da wollte er nur endlich einmal die Feuerwehr beim Löschen sehen. Als der sechsjährige Rudolf Jacobsohn an der Hand seines Vaters vor der brennenden Synagoge stand, da wird auch ihn dieses seltsame Schauspiel gefesselt haben. Vielleicht haben sich die beiden gesehen, vielleicht sogar nebeneinander, mit vom kindlichen Erstaunen weit aufgerissenen Augen auf die Flammen gestarrt. Zwei ganz normale Jungs an diesem 9. November 1938, nur durch wenige Meter getrennt und doch, ohne es zu wissen, so weit voneinander entfernt. Georg Reinfelder deutsch. Rudolf Jacobsohn jüdisch. Über 50 Jahre später lernten sie sich kennen. Reinfelder war im Zuge seiner Recherchen in den USA über die Geschichte der MS „St. Louis“, die im Frühjahr 1929 über 900 deutsche Juden ins sichere Exil bringen sollte und zum Spielball politischer Willkür wurde, auf einen der Reisenden gestoßen. In Denver/Colorado traf er sich mit Jacobsohn und ließ sich von der Überfahrt erzählen. Irgendwann kamen sie auf die gemeinsame Heimatstadt Bamberg zu sprechen. Und als Jacobsohn vom Abend vor der brennenden Synagoge erzählte, da lief es Reinfelder, wie er am Mittwoch in der Reihe „Nachlese – Das politische Buch“ in der Landeszentrale für Politische Bildung berichtete, heiß und kalt den Rücken runter. Ein „Besessener“ Hermann Simon vom Centrum Judaicum Berlin stellte Georg Reinfelder, der heute in München lebt und dort unter anderem als Privatdozent und Unternehmensberater tätig war, den knapp 50 Gästen als einen „Besessenen“ vor. Eine Bezeichnung, die als Kompliment gemeint und als solches auch von dem lächelnden Reinfelder angenommen wurde. In „MS ,St. Louis“ Frühjahr 1939 – Die Irrfahrt nach Kuba“ hat er die Ergebnisse seiner Besessenheit zusammen getragen. Vor zehn Jahren begann er, das Schicksal der über 900 Juden, die am 13. Mai 1939 mit der MS St. Louis Deutschland verließen, zu rekonstruieren. Zwei Wochen sollte die Schiffsreise dauern und in Kuba enden. Doch die MS St. Louis durfte nicht in den Hafen von Havanna einlaufen, die teuren Einreisegenehmigungen wurden kurzerhand für ungültig erklärt. Auch die USA wies das Emigrantenschiff ab. Erst nach fünf Wochen, schon auf dem Rückweg nach Deutschland, gelang es Kapitän Gustav Schröder, die Passagiere in den Niederlanden an Land gehen zu lassen. Über die Hälfte von ihnen konnte sich so dem Zugriff der Nazis entziehen. Auf knapp 270 Seiten hat Georg Reinfelder diese Odyssee und das spätere Schicksal dieser Menschen nachgezeichnet. Und wenn seinen kurzen Einführungen wie „Die Verfolgung der Juden in Deutschland 1933-1939“ etwas mehr Sorgfalt nicht geschadet hätte, sind es die sehr persönlichen Kapitel über die Menschen, die das Buch zu einem bewegenden Dokument machen. Reinfelder zitiert Erinnerungen und Tagebücher. So macht er die anfangs gelöste Stimmung der Reisenden spürbar, die später in Panik und Selbstmordversuche umschlägt. Er lässt den Kapitän Gustav Schröder zu Worte kommen, der zwar Parteimitglied aber zuerst Mensch war und alles versuchte, dass seine Passagiere nicht zurück nach Deutschland mussten. Viel Zeit und Geld hat Reinfelder in seine Arbeit gesteckt. Seiner sturen Hartnäckigkeit ist es zu verdanken, dass heute in Hamburg, an den St. Pauli Landungsbrücken, eine kleine Bronzetafel an die Reise der St. Louis erinnert. In Hermann Simon und dem Verleger Hentrich habe er ebenfalls zwei Besessene gefunden, die ihn in seiner Arbeit an dem Buch, das erst kürzlich von der German Jewish Community in Boston ausgezeichnet wurde, maßgeblich unterstützten. Am Mittwochabend erzählte Reinfelder ausgiebig von dieser Arbeit, den Recherchen und Erlebnissen. Fast schon entschuldigend sein Einwurf, wo das Herz voll sei, da laufe der Mund halt über. Unbegründet seine Befürchtung, er könne zu viel reden. Denn einem so Besessenen, dem hört man nur allzu gerne zu. Dirk Becker Georg Reinfelder: MS „MS. St. Louis“ Frühjahr 1939 – Die Irrfahrt nach Kuba. Hentrich & Hentrich, 270 S., geb., 23 Euro
Dirk Becker
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