Kultur: Bestürztes Erstaunen
Das Gorki-Theater Berlin mit „Der Kick“ im T-Werk
Stand:
Dunkle Bühne, ein Kasten hinten rechts. Vorne links eine einfache Bank. Mehr brauchten die beiden Schauspieler Susanne-Marie Wrage und Markus Lerch nicht, um das T-Werk am Freitag mit Entsetzen zu füllen. Dieses entsteht bei dem Stück „Der Kick“ von Andreas Veiel und Gesine Schmidt in Peter Weiß“scher Tradition mit Anklängen an das Brecht“sche Theater allein im Kopf der Zuschauer.
Die beiden Schauspieler wechseln beeindruckend schnell und sehr klar, durch Körperhaltung und Stimme markiert, die Personen: Mal ist Wrage verzeihend und hilflos-liebend die Mutter der Mörder, dann, verstockt, wortkarg oder erstaunlich geständig die Söhne Marco und Marcel; mal ist Lange der Staatsanwalt mit der arrogant herrischen Stimme, mal die Mutter des Mordopfers Marinus, die ihr Kind, wie sie sagt, verhätschelte. Als Marcel, der Mörder, der beim Verhör im Kasten steht, scheinbar unbeteiligt schildert, wie er den Kopf von Marinus auf den Rand des Troges gelegt, einen Stein gefunden und zwei Mal abgeworfen habe, entstehen die Bilder im Kopf der Zuschauer von ganz allein – und es ist genug, um es kaum aushalten zu können.
In anderthalb Stunden rekonstruieren die beiden Autoren Andreas Veiel und Gesine Schmidt die bis zuletzt unerklärliche Tat und ihre Hintergründe, wobei selbst der zunächst am unmenschlichsten wirkende Marco, der fast alle Befehle gibt, die der jüngere Bruder dann ausführt, als jemand erscheint, der geliebt wurde. Von seinen Eltern und von Nancy, die gleich ihm in der rechten Szene aktiv und auch schon straffällig ist. Aus mehr als 1500 Seiten Material wurde „Der Kick“ auf 40 Seiten für die Inszenierung des Gorki-Theaters kondensiert.
Das Stück erfindet nichts, aber es ordnet, es fokussiert und wird „beinahe zur Fiktion“, wie Andreas Veiel in einem Interview feststellt. „Der Kick“ stellt die Zuschauer vor ein Grauen, das weder begreif- noch nachvollziehbar ist. Der authentische Fall aus Potzlow, von den Medien blutrünstig aufgesogen, wird sozusagen in einer Black Box verfremdet, neu durchleuchtet und am Ende bleiben alle Fragen offen. Es gibt nämlich keine richtige Erklärung dafür, dass drei junge Leute, auch nach erheblichem Alkoholgenuss, einen, der vielleicht sogar ein Freund war, jedenfalls ein Bekannter, verprügeln, auf ihn urinieren, und ihn am Ende – das scheint logisch in der Erzählung von Marcel – umbringen. „Der ist hin“, sagen sie ungerührt über den, der als Skinhead eben keine Glatze trug und als Stotterer schwächer wirkte – und der auch noch mehrmals behauptet hatte, Jude zu sein. Der Zuschauer wird schutzlos dem erzählten Tathergang ausgesetzt. Einfach so, ohne Ablenkung.
Da gibt es keine computergesteuerten Maschinengewehrsalven mit spritzendem Blut, da gibt auch die Kleidung der Schauspieler, ganz in schwarz und sie mit Springerstiefeln, keine Möglichkeit der Flucht. Die Bühne schon gar nicht. Dennoch bannt das Geschehen, die Jugendlichen verfolgten es konzentriert und ohne Hüsteln. Sie lobten die beiden Schauspieler für die enorme Leistung, sie zeigten durch ihre Fragen, dass sie auf den Stoff vorbereitet waren, aber spürbar blieb ein bestürztes Erstaunen im Raum hängen.
Denkt man den Stoff weiter, den die Autoren und die Schauspieler dramatisch verfremdet so nah brachten, wird hier gleichzeitig die Frage nach all den Brutalitäten des Dritten Reiches mit gestellt – und ebenso wenig beantwortet. Hinschauen muss man, Auswege gibt es nicht. Die fassungslose Betroffenheit wird dramaturgisch gerade dadurch, dass jeglicher Unterhaltungsaspekt negiert wird, bodenlos tief.
Lore Bardens
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