Genie und Nerd: Clemens J. Setz liest in Potsdam: Besuch des Synästhetikers
Genial – oder endlose Qual: Im Feuilleton scheiden sich die Geister an Clemens J. Setz’ Roman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“.
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Genial – oder endlose Qual: Im Feuilleton scheiden sich die Geister an Clemens J. Setz’ Roman „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“. Obwohl das Werk beachtliche tausend Seiten stark ist, ist die Handlung schnell erzählt: Natalie Reinegger arbeitet in einem Heim für betreutes Wohnen und kümmert sich um den im Rollstuhl sitzenden homosexuellen Alexander Dorm. Der bekommt regelmäßig Besuch von Christopher Hollberg, der jahrelang das Stalking-Opfer von Dorm war – und damit Hollbergs Ehefrau in den Selbstmord trieb. Natalie merkt, dass hinter den Treffen keine Fürsorge steckt, sondern ein Psychospiel, in dem die Rollen immer wieder vertauscht werden und unklar bleibt, wer Opfer und wer Täter ist.
Um diesen Plot zu reflektieren, bräuchte es ein Koordinatensystem, um die vielen Punkte zu einem komplexen Gebilde zusammenzufügen. Setz zeichnet die Figuren aber nicht in einem übersichtlichen Ganzen. Allein die hypersensible Natalie zieht den Leser in ein verstörendes Universum. So etwa, wenn sie ihre Essgeräusche mit dem Smartphone aufzeichnet und für Podcasts verwendet oder unter Brücken fremden Männern Blowjobs anbietet. Setz schafft es aber, dass am Ende dieser Reise durch allerlei Seltsamkeiten kein Urteil über die Figuren entsteht, sondern eher die Frage aufkommt, was nun eigentlich normal und was krank ist.
Der 33-jährige Autor weist gern darauf hin, dass eindeutige Interpretationen in der Literatur aus seiner Sicht überbewertet sind. Und kompatibel mit dem Leser will der Österreicher ebenfalls nicht sein: „Falls eine Figur vorkommt, die einer Mehrheit der Leser andersartig, behindert oder krank erscheint, sagt das nicht so viel über meine Motivationen, sondern zeigt das momentane Koordinatensystem, nach dem die Menschen urteilen.“
Der Roman wirkt an vielen Stellen wie eine Erzählung aus einzelnen Momenten heraus. „Livehacks" nennt Setz das, kleine poetische Abwandlungen des Alltags, Sprachfragmente, die eine neue Dimension des Gewohnten aufzeigen. Es ist das Koordinatensystem eines Synästhetikers, als den er sich einmal selbst bezeichnete: Mit Wörtern verbinde er Farben und Formen, „Plüsch“ etwa wölbt sich vor seinem geistigen Auge „golden nach vorne wie ein Gong“. Setz lässt die Welt in seinen Texten ungewöhnlich eindringlich erscheinen. Eigentlich nicht schwer, beides zusammenzubringen: Das Genie und den Autor, der quälend individuelle Schmerzgrenzen überschreitet. Andrea Lütkewitz
Heute Abend liest Clemens J. Setz im Literaturladen Wist aus „Die Stunde zwischen Frau und Gitarre“. Beginn 19 Uhr, Eintritt fünf Euro.
Andrea Lütkewitz
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