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„Wenn ich schreibe, ist immer jetzt!“ Der 68-jährige Schriftsteller Peter Kurzeck.

©  Jürgen Bauer/Ullstein-Bild

Kultur: Bevor es mit der Zeit verloren geht

Ein grenzenloser Erzähler: Peter Kurzeck stellt seinen Roman „Vorabend“ im Peter-Huchel-Haus vor

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Ein Manuskript, über 1000 Seiten lang. Schreibmaschinenbeschrieben und mit unzähligen handschriftlichen Verbesserungen und Ergänzungen versehen. Lesen kann das nur einer, der Autor selbst, der sieben Jahre daran gearbeitet hat. Ihn um eine Reinschrift zu bitten, käme einer Katastrophe gleich. Denn das würde Jahre dauern. Und diese Reinschrift wäre schon nach kurzer Zeit nur wieder von handschriftlichen Verbesserungen und Ergänzungen übersät.

Dass dieses Manuskript dann doch noch unter dem Titel „Vorabend“ als Roman erscheinen konnte – stolze 1015 Seiten stark – ist einer genialen Idee zu verdanken, die so oft nur der nackten Not entspringt. Der Stroemfeld-Verlag lud im vergangenen Jahr vom 19. Juli bis zum 29. September in Frankfurt am Main zu einer öffentlichen Lesung, die gleichzeitig der Texterfassung diente. Zuvor war der Aufruf ergangen, dass Freiwillige gesucht wurden, die, was der Autor da Stunden um Stunden, Tage für Tage las, elektronisch erfassen sollten. Und das kostenlos. Es meldeten sich mehr als gebraucht wurden. Schließlich ging es hier um Peter Kurzeck.

Wer vom Schriftsteller Peter Kurzeck spricht, erlebt heute fast immer noch die gleiche Situation. Der typisch fragende und leicht unsichere Gesichtsausdruck bei seinem Gegenüber, der so überdeutlich signalisiert: Muss ich den jetzt kennen? Kurzeck, dieser Seitenschinder und Sprachbesessene, dieser Zeitenbezwinger und Erinnerungssammler ist noch immer ein Geheimtipp. Am kommenden Dienstag besteht die Möglichkeit, Peter Kurzeck zu erleben und vielleicht sogar für sich zu entdecken, wenn er im Wilhelmshorster Peter-Huchel-Haus seinen Roman „Vorabend“ vorstellen wird. Erzählen, nicht einfach nur lesen!

Dass überhaupt Bücher von Kurzeck erschienen sind und, so bleibt zu hoffen, auch weiterhin erscheinen werden, muss dem, der sich mit dem umfangreichen Werk des mittlerweile 68-Jährigen beschäftigt, immer wieder wie ein Wunder erscheinen. Denn Kurzeck ist keiner, der zu einem Abschluss hin schreibt, wie schon die Episode um das Manuskript für „Vorabend“ zeigt. Kurzeck ist ein Erzähler, der, wie er es selbst einmal nannte, an einem „ewigen Buch“ schreibt. Und immer wieder findet sich etwas, das ergänzt werden kann, und dann noch etwas, und noch etwas, und noch etwas.

Weil Kurzeck mit seiner Art zu erzählen ganz eigene, für uns oft so schwer nachvollziehbare Maßstäbe gesetzt hat, die uns in ihrer Wirkung aber so faszinieren, wirkt er wie ein Erzähler, der scheinbar aus der Zeit gefallen ist. Und aus der Zeit fallen, das ist es, was Peter Kurzeck durch das Schreiben erreichen will.

„Die ganze Gegend erzählen, die Zeit“ lautet das Motto, das er seinem Roman „Vorabend“ vorangestellt hat. Und immer wieder finden sich in dem Buch Sätze wie: „Wenn ich schreibe, ist immer jetzt!“, „Und beim Schreiben manchmal die Zeit anhalten.“, „Schreib weiter! Schreib schneller! Schreib alles!“ Kurzeck will Vergänglichkeit nicht akzeptieren, will nicht, dass die Zeit voranschreitet und das, was hinter ihr liegt, verloren geht. Gleichzeitig aber ist es die Erinnerung, der er in seinen Büchern bis in die feinsten Verästelungen nachsucht. Erlebnisse und Eindrücke, die einst Alltag, banale Wirklichkeit waren und erst durch den Rückblick, dem Bewusstwerden des Vergangenen zu etwas Wertvollem werden. Aus diesem Paradoxon hat Peter Kurzeck eine Literatur von so eigenwilliger wie klarer Schönheit und süchtig machender Sprachkraft geschaffen.

„Vorabend“ setzt im Herbst 1982 ein. Oktobertage in Frankfurt am Main, die der Erzähler Peter nutzt, um Erinnerungen an ein Wochenende wachzurufen, das er mit Freundin Sibylle und Tochter Carina bei Jürgen und Pascale in Eschersheim verbrachte. Ein Wochenende, an dem er dann von den Orten seiner Kindheit im oberhessischen Staufenberg erzählt. Über 900 Seiten lang! Und wer dem Erzählkosmos von Peter Kurzeck erst einmal verfallen ist, weiß, dass wirklich jede Seite etwas Besonderes ist.

Wer von Kurzeck eine Handlung in Form einer Chronologie erwartet, wird enttäuscht. Denn Chronologie würde bedeuten, die Zeit in ihrem Ablauf zu akzeptieren. Doch wenn Kurzeck erzählt, soll sie in ihrem gnadenlosen Ablauf ausgebremst werden. Und so breitet sich das Erzählte in alle Richtungen aus, werden immer neue Einzelheiten wachgerufen und wieder entdeckt. Ein sich immer weiter verästelndes Geschichteneindrückeerinnerungengeflecht, das durch die ständigen Wiederholungen und Hinzufügungen zu etwas Unabgeschlossenem, Grenzen- und für bestimmte Momente auch etwas Zeitlosem wird. Sie ganz auszublenden oder gar zum Stillstand zu zwingen, das gelingt auch Peter Kurzeck nicht. Doch hat er eine wunderbare Erzähltechnik entwickelt, mit der er sie im Zaum hält, ihr viel von ihrer absoluten Kraft nimmt. So fragt er beispielsweise immer wieder, welche Jahreszeit gerade ist. Oder er macht Riesensprünge, wenn er gerade ausgiebig vom Frühling erzählt, um dann im nächsten Halbsatz durch Herbst und Winter zu streifen. Dann wieder schleicht er über Seiten und Seiten mit den Igeln durch seine Heimatregion oder begleitet seinen Schwager durch dessen Tage. Und während auf der einen Seite die Zeit dabei immer mehr an Bedeutung verliert, zeigt Kurzeck auf der anderen, wie gnadenlos der mit der Zeit einhergehende Fortschritt Bestehendes nicht nur verdrängt, sondern auch vernichtet.

Kurzeck verdammt diese Entwicklung nicht, egal wie schmerzhaft sie oftmals auch ist. Er erinnert daran, in dem er davon erzählt. Das mit unvergleichlicher Liebe und Begeisterung für jedes Detail. Und so lange Peter Kurzeck erzählend erinnert, kann nichts verloren gehen. Wie wichtig ihm dabei diese eigenen Erinnerungen sind, zeigt seine autobiografisch-geprägte Chronik „Das alte Jahrhundert“.

Ursprünglich war diese Chronik auf sieben Bände angelegt. Mittlerweile sind jedoch schon 12 geplant. Der Roman „Vorabend“, der mit seinen über 1000 Seiten in Sachen Umfang erheblich aus dem Rahmen fällt, ist der fünfte Band. Es ist der Zwang, nichts vergessen zu dürfen, der Peter Kurzeck treibt. Und es ist dem Stroemfeld-Verlag, der sich so verdient um die historisch-kritische Frankfurter Hölderlin-Ausgabe gemacht hat, gar nicht genug zu danken, dass er den großen Erzähler Kurzeck im Programm hat.

„Seit einigen Jahren wird mein Leben immer mehr und mehr so, als ob ich es mir selbst ausdenke. Je länger ich schreibe, umso mehr wird es so“, hat Peter Kurzeck einmal gesagt. Erinnerungen, die variieren, andere Formen annehmen und so zu Literatur werden. Davon erzählt Peter Kurzeck. Immer und immer und immer wieder. Und wir können uns glückliche Menschen nennen, weil wir daran teilhaben.

Lesung und Gespräch mit Peter Kurzeck am kommenden Dienstag, 21. Juni, um 20 Uhr im Wilhelmshorster Peter-Huchel-Haus, Hubertusweg 41. Der Eintritt kostet 7, ermäßigt 5 Euro, Kartenreservierung unter Tel.: (033205) 62 9 63. „Vorabend“ ist wie alle anderen Bücher von Peter Kurzeck beim Stroemfeld-Verlag erschienen und kostet 39,80 Euro

Dirk Becker

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