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Von Dirk Becker: Bilder einer Katastrophe

Am morgigen Sonntag wird die Ausstellung „Endzeit Europa“ im Kutschstall eröffnet

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Die Farbe verstört. Sie hat etwas Beruhigendes, gelegentlich auch etwas von Idylle. Das passt nicht ins Bild. Besser gesagt in unser Bild, unsere Zeitwahrnehmung vom Ersten Weltkrieg. Fotografien in Schwarz-Weiß kennen wir. Sie prägen unser Bild und schaffen die nötige Distanz zu einem Ereignis, das fast 100 Jahre zurückliegt. Aber Farbfotografien?

Es sind keine Bilder von Kampfhandlungen, die in der Wanderausstellung „Endzeit Europa. Ein kollektives Tagebuch französischer und deutscher Schriftsteller 1914-1918“ zu sehen sind. Die Fotografen Jules Gervais-Courtellemont und Hans Hildebrand haben Schauplätze des Ersten Weltkrieges besucht und fotografiert. Die Bilder zeigen Soldaten an der Front oder im Zeltlager, zerstörte Häuser, Friedhöfe und ein blühendes Mohnfeld im Kampfgebiet. Es ist der Gleichmut der Natur gegenüber dem Irrsinn des Menschen. Während sich die Soldaten in einem sturen Stellungskrieg niederschlachten, folgt die Natur ihrem Rhythmus. Es ist vor allem diese Farbe der Natur, die an den Bildern von Jules Gervais-Courtellemont und Hans Hildebrand so verstört.

Sein fotografiegeschichtliches Interesse hat Peter Walther vom Brandenburgischen Literaturbüro, das die Ausstellung organisiert hat, zu diesen seltenen Farbfotografien geführt. Doch nur diese Bilder zu zeigen, war ihm nicht genug. „Da war die Frage, wie die Leute damals diese Zeit, diesen Umbruch erlebt haben“, sagt Peter Walther.

Der Erste Weltkrieg wird auch als die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet. Mit Begeisterung und Patriotismus wurde der Kriegsbeginn im Sommer 1914 nicht nur in Deutschland begrüßt. Die Ernüchterung folgte spätestens zwei Jahre später. Die unerwartet lange Dauer, die Stellungskriege und die zahlreichen Toten veränderten die Einstellung radikal. Als 1918 der Erste Weltkrieg sein Ende fand, war die althergebrachte Ordnung nicht nur in Europa aufgehoben.

Am 31. Juli 1914, vier Tage nach Kriegsbeginn, schrieb der Schriftsteller Gerhart Hauptmann in sein Tagebuch: „Das wohlbekannte Zeitalter ist nicht mehr: Nichts von allem ist noch, was als fest und unumstößlich gegolten.“ Es ist eine der mahnenden Stimmen im begeisterten Kriegstaumel, der Deutschland ergriffen hat. Zu finden ist sie im über 400 Seiten stark en Begleitband zur Ausstellung.

Während sich die Ausstellung im Obergeschoss des Hauses der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte vor allem auf die Bilder der Fotografen Jules Gervais-Courtellemont und Hans Hildebrand konzentriert, bietet der Begleitband ein kollektives Tagebuch wie es Walter Kempowski mit seinem Mammutwerk „Echolot“ geschaffen hat. Dass der Ende 2007 verstorbene Schriftsteller noch ein Geleitwort für den Begleitband geschrieben hat, ist kein Zufall. „Kempowski war Vorbild“, sagt Peter Walther.

So bietet die Ausstellung „Endzeit Europa“ einen Einstieg in das kollektive Tagebuch. An großformatigen Tafeln wird kurz und übersichtlich in die Vorgeschichte und den Verlauf des Ersten Weltkrieges eingeführt. Monitore und historische Stereoformate, bei den die Bilder eine räumliche Dimension erhalten, lassen die zahlreichen Farbfotografien sprechen, die eine aus heutiger Sicht erschreckende Normalität im Ausnahmezustand Krieg zeigen. Ein paar ausgewählte Zitate geben Ausschnitte aus dem kollektiven Tagebuch wieder und zeigen exemplarisch den Wandel von der Begeisterung hin zur Ernüchterung, von der Bejahung hin zu Ablehnung. Dazu sind bekannte Weltkriegsgrafiken von Käthe Kollwitz, George Grosz und Otto Dix zu sehen.

Diese kleine, überschaubare, aber umso empfehlenswerte Ausstellung wird durch den Begleitband nicht einfach nur ergänzt, sondern fortgeführt. In der Vielzahl der Stimmen, die hier zu Wort kommen wird ein ganz persönlicher, ganz direkter Blick auf Geschichte erfahrbar.

„Was hat die Leute bewegt, wie haben sie das Geschehen erfahren und wie hat sich das auf ihre Einstellung, ihr Denken gewirkt“, erklärt Peter Walther den Grundgedanken dieses kollektiven Tagebuchs. Wie nah und nachvollziehbar dabei Geschichte werden kann, zeigt ein Tagebucheintrag des Schriftstellers und Offiziers Ernst Jünger vom 24 Mai 1917: „Wenn ich über die grüne Wiese vor mir auf das zerschossene la Baraque sehe, dann muss auch ich, einst so Kriegslustiger, mir die Frage vorlegen: Wann hat dieser Scheißkrieg ein Ende?“ Es sind nur wenige Worte, doch aus ihnen spricht mehr als aus mancher voluminöser Weltkriegsdarstellung.

Die Ausstellung „Endzeit Europa“ wird am morgigen Sonntag, um 11 Uhr, im Kutschstall, Am Neuen Markt, mit einer Lesung aus den Tagebuch- und Brieftexten eröffnet. Der Begleitband kostet in der Ausstellung 19, 90 €

Dirk Becker

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