zum Hauptinhalt

Kultur: Bilderbogen in Wildwest

„Tom Sawyer“ wurde im Hans Otto Theater uraufgeführt

Stand:

„Tom Sawyer“ wurde im Hans Otto Theater uraufgeführt Carlos Manuel, Autor und Regisseur einer selbstgemachten Spielfassung zu Mark Twains 1877 erschienenen Erfolgsroman „Tom Sawyer“, die am Donnerstag in der ausverkauften Reithalle A des Hans Otto Theaters ihre Uraufführung feierte, hat wohl ein wenig gemauert: Was in der kleinen Stadt St. Petersburg am großen Mississippi so Abenteuerliches geschah, interessiert ihn angeblich weniger als die Bewährung der Freundschaft zwischen der mittelständisch zivilisierten Titelfigur und dem Taugenichts Huckleberry Finn, einem echten Paria, der vor Türschwellen schläft, wenn das Wetter es zulässt. Auch mit dem Setzen und Durchbrechen „gesellschaftlicher Regeln“ flirtete er vorab – als Bestandteil seiner Inzenierungsidee für Kinder P 9. Was ist nun daraus geworden? Genau das Gegenteil. Der 1968 in Angola geborene Portugiese inszenierte eine leichtfüßige, elegante, witzige, fast übermütige Abenteuerkomödie, welche die Herzen des jungen Publikums ob ihres Einfallsreichtums, einer rasant ausgespielten Szenentechnik und nicht zuletzt wegen des preisverdächtigen Bühnenbildes (Vinzenz Gertler) im Sturme eroberte. Einen lebensprallen Bilderbogen voller Spiel- und Wortwitz und bewunderungswürdiger Einfälle statt der versprochenen Subtext-Dramatik. Die Sache mit den „Regeln“ spielte in dem 90-Minüter tatsächlich eine große Rolle, besonders in den klugen Schulszenen mitten in Wildwest, wo Lehrer Walters (Matthias Hörnke) zuerst die Einzelteile der Stars and Stripes annagelt, bevor gelernt und per Stock bestraft wird. Da fliegt auch die Tür von Tante Pollys (Gisela Leipert) auf, Hand aufs Herz, die Nationalhymne ist allen heilig. Dem ausgestopften Hund des Paukers freilich nicht. Auch später, als unter dem schon baumelnden Strick darüber verhandelt wird, ob Muff Potter (Andreas Erfurth, eine der blassesten Bühnenfiguren) den leichenfleddernden Doktor (Axel Strothmann, wie auch andere in mehreren Rollen) erdolcht habe und sich alle mit einem verlegenen „Gute Nacht" verabschieden, leuchtet Manuels „Regelwerk" durch. In seinem Bilderbogen wird gespielt, gejagt und gesungen, auch mit berückender Naivität geliebt, Tom hat sich ja in die „Brillenschlange" Becky (Marie-Luise Lukas) verguckt. Am Schluss, als sich der echte Mörder (Sebastian Wirnitzer) in der zugenagelten Höhle fängt, tritt das frühverlobte Paar händchenhaltend ans Licht. Was aber hätte sich, nach flott exponierter Zaunstreich-Szene, zwischen Tom (Niels Heuser, sehr präzise) und seinem vermeintlichen Freund bewähren sollen, wenn Huck (Samuel Kübler, von der Regie sträflich vernachlässigt), jeder dramatische Ansatz fehlt? Das wäre spätestens in der Gerichtsszene zu verhandeln gewesen, aber da regierte das Bild. Die Buben hatten sich als Zeugen des nächtlichen Mordes auf St. Petersburgs Friedhof ja per Blut schwur verpflichtet, den Mund zu halten, doch Tom sagt ohne Zögern aus. Trotz guter Ensemble-Leistung fehlte dem Spiel somit das Zentrum – wie man Manuel das „P 9" auch nicht unbedingt abnimmt. Mit dem Ölfass von Shell, der Dose von Cola und der gruftigestaltigen Musikerin Vicki Schmatolla war Gegenwart da, sonst ging es alttestamentarisch zu vorm herrlichen Rundhorizont, wo Pollys Haus um die geschrägte Rampe gedreht und jedes westernerprobtes Versatzstück mehrfach genutzt wird, bis zum Strommast im Parkett. Auge um Auge, Zahn um Zahn! Preisverdächtige Weltliteratur eben. Hingehen, staunen! Gerold Paul

Gerold Paul

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
console.debug({ userId: "", verifiedBot: "false", botCategory: "" })