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Kultur: Bis ins Mark erschüttert

Jens Thomas in der Druckerei Rüss

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Fast schien der große schwarze Flügel zum Inventar der Druckerei Rüss zu gehören, ein weiteres technisches Monstrum zwischen all den Geräten. Doch gedruckt wurde am Samstagabend nicht: Wo sonst Vervielfältigung zum Handwerk gehört, gab es diesmal etwas Einmaliges. Jens Thomas war zu Gast – aber ein klassisches Jazzkonzert sollte es dennoch nicht werden.

Thomas ist ein Exzentriker, der wild auf dem Treppengeländer trommelnd wie eine Katze hineinschlich und mit seiner Kopfstimme klagende Laute von sich gab, die sich erst nach und nach zu Gesang wandelten, Entertainment im Gewand des Wahnsinns quasi. Thomas verbeugt sich vor seinem Flügel, der Kopf bleibt unten, zart mäandern Töne aus ihm und dem Instrument. Und dann kam das, wovor sich das ältere Klientel ganz sicher fürchtete: „Das Stück ist von AC/ DC“, raunt Thomas warnend ins Mikrofon, bevor er seine Interpretation von „Live Wire“ gibt. Mit der linken Hand spielte er nun Klavier, mit der rechten schlug er auf ein Stand-Tom. Aber von wegen Hardrock: Thomas interpretiert die australischen Rocker zärtlich-verklausuliert, tiefschwarz, tragisch. Die Ruhe trügt aber: Wenn Thomas kurz darauf wummernde Beats aus der Loopstation in den Raum jagt und in irrem Tonfall ins Mikrofon schreit, während er mit geschlossenen Augen ekstatisch den Kopf schüttelt, lohnt der Blick ins Publikum: Fast alle sitzen mit entsetztem Gesichtsausdruck, fassungslos. Nach zwei Stunden voll Goethe, Thomas und AC/DC verabschiedete sich der Künstler sichtlich erschöpft – nach einem skurillen Konzert, das einen bis ins Mark erschüttert zurückließ. Oliver Dietrich

Oliver Dietrich

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