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Kultur: Biss und Härte

„Vocalise“-Hommage an Kurt Weill: „Zaubernacht“ und „Die sieben Todsünden“ in der Erlöserkirche

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Geheimnisvolle Klänge durchziehen das Kirchenschiff der Erlöserkirche. Bis auf vier von unten angestrahlte Säulen und die Pultbeleuchtung für die Musiker des Neuen Kammerorchesters Potsdam liegt der Raum in Dunkelheit. Eine passende Stimmung für jene „Zaubernacht“-Kinderpantomime des erst 22-jährigen Kurt Weill, dem das 2. Saisonkonzert des Kammerorchesters unter dem Motto „Klänge des Umbruchs“ gewidmet ist und das als vierter Beitrag im Rahmen des „Vocalise“-Festivals am Donnerstagabend vor einem interessierten und beifallsstürmischen Publikum stattfand.

Mitten in das von Klavier, Flöte und Geigen filigran gewirkte Klanggewebe künden zwölf Glockenschläge die Mitternacht an. Und dann erscheint jene Zauberfee, die mit einem ariosen Lied, vorgetragen von der nicht sonderlich textverständlichen Sopranistin Anja Petersen, das Spielzeugvolk zum Leben erweckt: „Das Starre dann sich regt, das Müde sich bewegt; was stumm beim Taggebraus, lärmt fröhlich dann durchs Haus.“

Das Sujet kommt einem sehr bekannt vor, schließlich fußen auch Tschaikowskys „Nussknacker“, Strawinskys „Petruschka“, Respighis „Der Zauberfladen“ oder „Die Puppenfee“ von Joseph Bayer auf selbiger Grundidee. Musikalisch hat sich Weill hierbei für einen farbenreichen Stilmix entschieden, der auf Salonmusik und Jazz genauso zurückgreift wie auf Gesellschaftstänze, romantische Walzerseligkeit und martialische Märsche oder Marionettenhaftes voller filigraner mozartscher Anmut.

Für den durch einen familiären Trauerfall verhinderten Ud Joffe springt kurzfristig der schwedische Dirigent Olaf Boman ein. Er hält die Musiker am straffen Zügel, fordert sie mit präzisen Gesten zu einem drängenden, klaren, facettenreichen und überaus transparenten, bisweilen auch lakonischen Spiel. Da darf das Klavier nach allen Regeln des Ostinato hämmern, die Sologeige gleich einer Prinzessin empfindsame Klanggirlanden knüpfen, das Fagott eine düster-sarkastische Klage anstimmen. Und den Chaosausbruch in Spielzeugland heizt das durchdringende Piccolo gehörig an.

Dann beenden urplötzlich sechs Glockenschläge den nächtlichen Spuk. Die Puppengemüter beruhigen sich. In sanfter Klangschönheit dürfen sie – nun starr und stumm – sich auf die nächste Geisterstunde freuen, wenn die Zauberfee sie wieder erweckt. Mit dieser beachtlichen „Zaubernacht“ gibt der spätere „Brecht“-Weill frühe Kunde seines künftigen unverwechselbaren Stils.

Als 33-jähriger Paris-Exilant arbeitet Weill 1933 ein letztes Mal mit Brecht für das Ballettprojekt mit Gesang „Die sieben Todsünden“ zusammen, einer sozialkritischen Abrechnung über die Heuchelei bürgerlicher Moralvorstellungen. Gemäß brechtschem Verfremdungseffekt erscheinen die verschiedenen Arten der Sünde wie Habsucht, Neid oder Faulheit nicht als „Sünde“, sondern als Luxus, den sich allerdings nur die Wohlhabenden leisten können.

In der konzertanten Aufführung brilliert die Mezzosopranistin Michaela Lucas als Anna mit großer Stimme und luxurierendem Gesang statt gestischem Vortrag à la Lotte Lenya oder Gisela May. Das ausbeuterische „Familien“-Quartett (Mitglieder des Rias-Kammerchors) als Kommentator der Geldbeschaffungsmaßnahmen zum Hausbau in Louisiana trifft die Parodie auf geistliche Choräle überaus prägnant und präzise. Auch das Orchester verfügt über die erforderliche Klanghärte und durchdringenden Biss. Ein Erlebnis. Peter Buske

Peter Buske

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