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Kultur: „Bitte lasst mich ein wenig noch sterben!“

Erinnern an Wolfgang Hilbig im Literaturladen Wist

Stand:

„Welcher deutschsprachige Verlag veröffentlicht meine Gedichte?“, fragte der schreibende Arbeiter Wolfgang Hilbig 1968 in einer Zeitungsannonce. Es war seine erste Veröffentlichung. Zweifler und Zweifel verfolgten den Meuselwitzer des Jahrgangs 1941 auch später, als er sich längst in der „Eliteliga“ wusste, so hoffend, bequem die Rente zu erreichen. Aber daraus wurde nichts. Mit zahlreichen Preisen geehrt, hatte er für seinen exzessiven Lebensstil zu zahlen. Am 2. Juni verstarb er in Berlin.

Anlässlich seines 65. Geburtstages organisierten das Brandenburgische Literaturbüro und der Literaturladen Wist am Dienstag einen Leseabend, der weitgehend auf persönliche Erinnerungen und Stellungnahmen verzichtete, sondern Hilbig durch Hilbig sprechen ließ.

Die Autoren Katja Lange Müller, Ines Geipel und Bachmannpreisträger Lutz Seiler lasen (honorarfrei) einfach vor, was ihnen am meisten gefiel, wie der Schauspieler Ulrich Anschütz und Hendrik Röder als Spiritus rector des Abends auch. Das war gut so, denn Wists „Oberstüblei“ war gerammelt voll, man saß auf der Erde, bevölkerte sogar die Eisentreppe. Das habe er sich immer gewünscht, uzte der Ladeninhaber, so viele Leute zu Hilbigs Ehren, bis die Bude auseinanderkracht. Eine derart existenzgefährdende Veranstaltung mitzuerleben, war natürlich sehr spannend.

Hilbig hatte, was einen echten Schriftsteller auszeichnet: Talent, Durchhaltevermögen, Leidensfähigkeit („Bitte lasst mich ein wenig noch sterben!“) und Eigensinn. Wie alle guten Leute spricht er stets von sich selbst. Wer sich nie unter die Knechtschaft der Germanistik begibt, ist sowieso vorn. Anders gesagt, er lässt sich nicht „einordnen“, was ihn zu einem liebens- und lesenswerten Original macht. Ulrich Anschütz begann mit einem dunklen Gedicht, worin der Autor mit einem redet, „der Ich heißt“. Diesem Widersacher sagt er: „Du musst sterben, damit ich leben kann!“. Daten und Fakten von dem, „der aus dem Wald kam“, schilderte Hendrik Röder im Durchlauf: Obwohl Musterbeispiel eines „schreibenden Arbeiters“, konnte man in der DDR nichts mit ihm anfangen. 1983 veröffentlichte Reclam/Ost einmalig Gedichte unter dem Titel „Stimme Stimme“, woraus Ulrich Anschütz anfangs las. Zwei Jahre später wurde er mit einem Schriftstellervisum in den Westen expediert, aber da war es genauso. In seinem Roman „Das Provisorium“ (Fischer Verlag) schreibt er 2000: „Heimweh braucht man, um seine Ankunft im Westen endlich zu begreifen“ - und träumte dabei von jenem Zug, der ihn nach Leipzig zurückbringt. Zwei Pässe, zwei Welten, aber nur ein Leben, das verkrafte, wer kann.

Heiter-wehmütige Erinnerung schwang in dem Text „Flaschen“ mit, den Ines Geipel las. Flaschen spielten auch in Hilbigs Privatleben eine wichtige Rolle. Lutz Seiler und Hendrik Röder lasen Passagen aus dem „Provisorium“, letzterer jenes Kapitel, wo der Autor über Fernsehpornos für einsame Hotelgäste reflektiert. Als Hommage an den Freund sprach er Sächsisch, es war nicht Hilbigs Stimme. Von Katja Lange-Müller hörte man einen tiefen Text „Über den Tonfall“, vielleicht das beste in den neunzig Minuten. Hilbig wusste vom baldigen Tod, vom langsamen Sterben. Deshalb suchte er den „Schlaf der Gerechten“, übte sich gar in der „Anrufung des toten Gottes“. Der Schauspieler vom Gorki-Theater, Ulrich Anschütz, beendete diesen Abend. Zwar stürzte keine Decke, doch bitter klang es schon: „Ich bin des Zufalls schiere Ungestalt, erbarmt euch meiner“.

Gerold Paul

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