Kultur: Blanke Gegenwart
Alta musica mit „Carmina burana“ aus dem 13. Jahrhundert im T-Werk
Stand:
Dank dem T-Werk hatte Potsdam jüngst Gelegenheit, das Jahr 2006 mit dem Codex latinus Monacensis zu beenden, oder das neue Jahr mit den „Liedern der Benediktbeuren“ zu beginnen. Beide Namen beschreiben denselben Liedkodex aus dem 13. Jahrhundert, welcher durch Carl Orffs szenisches Oratorium „Carmina burana“ (uraufgeführt 1937 in Frankfurt/Main) weltweit bekannt geworden ist. Doch während der Münchner Komponist kraft seiner Rhythmus-Instrumente vorwiegend das Ausgesucht-Irdische besang, wählte das seit 1985 bestehende Ensemble Alta Musica aus Berlin in auffallend junger Besetzung einen ganz anderen Zugang.
Auf historischen Instrumenten wie Drehleier, Fidel, Handharfe, Saitentambourin, Schalmei und Pommer spielend, handelt ihre Fassung der „Bauernoper“ (Übersetzung Carl Fischer, 1979) von den Tugenden und Lastern jener Zeit, als man in Paris gerade die Kathedrale Notre Dame errichtete. Recht hatte da „keinen Glauben/ strebt die Zahlen fort und fort/ nur recht hoch zu schrauben“. Entsprechend die Haltungen: „Ohne Glauben lern zu rauben, mache wie''s jeder macht“ steht in den alten Texten. Sie sind im besten Sinne moralisch. Gewarnt wird, sich an die wankelmütige Fortuna zu halten, geboten, der Geliebten mit den Maßstäben der Minne zu begegnen, von Zwietracht und Feindesneid zu lassen: „Was rechtens ist, das tu!“ in Gott und Liebe, dann könne dem Wandler auf Erden nichts passieren. Keine Frage, dass diese Überlieferung die blanke Gegenwart ist - jede Zeit hat wohl ihre Hybris.
Wie nun „Alta Musica“-Chef Rainer Böhm die meist per Neumen notierten „Lieder des Mittelalters aus der Original-Handschrift“ in eine kapitale Kantabilität alten Stils brachte, worin die himmlischen Harmonien Haut und Sinn bis zum abschließenden „Alleluya“ beherrschten, so war die Darstellung dieser lateinischen Gedichtsammlung durch T-Werk-Regisseur Jens-Uwe Sprengel sehr interessant, denn er knüpfte an den szenischen Gestaltungswillen Carl Orffs an: Wenig vom Lichte beleuchtet, spielte das sechsköpfige Ensemble, deren herausragenden Köpfe die erstklassige Sopranistin Amy Green und die ihr völlig ebenbürtige Altistin Anja Simon waren, innerhalb eines hochquadratischen Vorhanggewebes, während sich das Publikum auf zwei gegenüberliegenden Sitzblöcken gruppierte.
Ein Tableau mit riesigem Notenbuch war das gedankliche Zentrum im Innern. Schalmeien umwandelten dieses Geviert mit penetrierendem Ton, auch die exzellenten Vokalistinnen, welche in manchen „Duetten“ nach altem Brauch die Stimmlagen tauschten.
Durch solche Schönheit erhoben, hörte man gut, was auch die Wissenschaft sagt: Die eigentlich inhomogene Liedsammlung (um 1230) bilde „den ersten Höhepunkt in der Geschichte der Mehrstimmigkeit“. Alles Harmonie, alles Schönheit in gedämpfter, oft trauriger Stimmung, gleichwohl Rainer Böhm die instrumentale Besetzung gelegentlich etwas übertrieb.
Aber was da am Beginn des neuen Jahres geradezu zauberhaft geboten wurde, vokal, instrumental, solistisch, auch szenisch, war schon erhebend genug: der kunstvolle Ton am Instrument als schönstes Gut des Erdenwurms, die teils den traditionellen Mariengesängen, teils den „mittelalterlichen“ Sibyllinen entlehnte Vokalität – als himmlische Leihgabe! Und man erfuhr sogar, wie „klassisch“ eine „Koloratur“ vor den Zeiten Bachs geklungen hatte.
Einfach wunderbar! Greift solche mittelalterliche Hochkunst an das Herz, nach der Seele? Minutenlanger Applaus und eine Zugabe waren die Antwort. Gerold Paul
Gerold Paul
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