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Kultur: Blind in die Zukunft

„Religionen in China“ beim Kamingespräch der Friedenskirchengemeinde

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„Aufbruch“ heißt für China zunächst einmal „Chaos“, besser Pragmatismus jenseits aller Traditionen und Werte. Spätestens nach der Kulturrevolution in den 60er und 70er Jahren sei den Chinesen das Vertrauen in die Obrigkeit abhandengekommen, sagte der ehemalige „Stern“-Mitarbeiter Jan-Philipp Sendker am Mittwoch im Gemeinderaum der Friedensgemeinde. Er hat das Land vielmals durchstreift, mal als Handlungsreisender, mal als „Wissenschaftler“ getarnt, als Korrespondent seiner Zeitschrift hätte er zu viele Aufpasser an seiner Seite gehabt. Von der Friedenskirchengemeinde war er gebeten, im Rahmen der Reihe „Kamingespräche“ über „Religionen in China“ zu sprechen. Dieses Thema kam zwar etwas kurz, dafür erfuhr man so viel über die Wesensart dieses Landes, dass man es auch so genug sein lassen konnte.

China ist jetzt dabei, „sich neu zu erfinden“, sagte Sendker. Alles sei möglich, allerdings in einem totalen Werte-Vakuum. „Daoismus, Konfuzianismus, Buddhismus, Pragmatismus“, irgendwo auch das Christentum, in China zwar nach Millionen zählend, dennoch in der Masse verschwindend. Alles nebeneinander, auch durcheinander, man könne christlich heiraten und sich buddhistisch beerdigen lassen, kein Problem. Die Chinesen verhalten sich schlichtweg pragmatisch, und sehen zuerst auf sich selbst. Seit dem Start Mitte der 70er hätten doch alle die gleichen Chancen zum Aufbruch gehabt, wer es bis heute nicht geschafft hat, sei selber schuld, erzählten ihm zwei junge Frauen westlicher Prägung. Keine Sorgen über die Zukunft? Er fragte eine fünfunddreißigjährige Bankerin. Sie habe sich darüber nie Gedanken gemacht. Der graue Himmel über Shanghai? Kriegt die Regierung schon hin! Erst nach einigem Fragen fand sie ihre Sorge – einen dummen Mann zu bekommen. Das Wichtigste in einer Heiratsannonce: Wie behandelst du deine Eltern? Denn wie er mit diesen, so wird er später mit ihr umgehen. Und Gott? Zu weit weg, er könne sich schließlich nicht um jeden Chinesen einzeln kümmern.

Harsch, brutal, vor allem ohne Hilfsbereitschaft, so beschreibt Sendker diese abergläubischen Chinesen. Zwei Alte versuchten auf einem Flughafen vergeblich ihr schweres Gepäck auf ein Laufband zu heben, niemand half. Als er mit zugriff, fragte man ihn sofort: Kennen Sie die? Sein Nein brachte die Frager in Verlegenheit. Erst das große Beben in Mai setzte die Spendenbereitschaft der Chinesen in Gang. Nein, wiederholte Sendker, es gibt keine verbindliche Moral im heutigen China, die etwas zusammenhielte. Auch der Kommunismus sei längst nicht mehr das, was er mal war. Man eilt wohl blind in die Zukunft.

Und die Religionen? Ahnenkult in jedem Haushalt, in jedem Geschäft Räucherstäbchen und ein Altar. Der Islam wird mit größerem Misstrauen als „das Christentum“ beäugt. Man kann Religionen ausüben, darf aber nicht dem Staat in die Quere kommen.

Aus seinem Porträt-Buch „Risse in der Großen Mauer“ (Blessing Verlag 2001) las Jan-Philipp Sendker das Kapitel über eine katholische Gemeinde fernab. Hier lebt man ohne Prunk und Gloria in größter Armut, bescheiden, barmherzig. Die christliche Mitmenschlichkeit ringe sogar der Zentralregierung Respekt ab. Immerhin gibt es 28 000 protestantische Kirchen im Land, 5000 katholische – hier will der Staat (wie einst in Preußen!) die Bischöfe einsetzen, aber der Vatikan akzeptiert das nicht. Die Zahl aller Christen in China wird offiziell auf 50 bis 80 Millionen geschätzt. Manchen Zuhörer stimmte das hoffnungsvoll.Gerold Paul

Gerold PaulD

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