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Wenn Menschen wie Zahlen wären. Dann wäre für Christopher Boone (Holger Bülow) vieles einfacher.

© HL Böhme

Kultur: Bloß nicht anfassen!

Eine Rolle als besondere Herausforderung: Holger Bülow als Christopher Boone in „Supergute Tage“

Stand:

Sherlock Holmes, englischer Privatdetektiv aus der Feder von Arthur Conan Doyle, ist bekannt dafür, auf ungewöhnliche Weise Kriminalfälle zu lösen. Er stellt Zusammenhänge aus Anhaltspunkten her, die keinem anderen Menschen auffallen würden, kombiniert mit mathematischer Schläue und interpretiert augenscheinliche Nichtigkeiten zu durchschlagenden Auflösungen – ein Meister seines Fachs. Doch nicht nur bei Doyle hat die Figur aus der Baker Street zwischenmenschliche Defizite – auch die preisgekrönte BBC-Serie „Sherlock“ interpretiert den Meisterdetektiv als jemanden, der mit der analytischen Kategorisierung der Umwelt die Signale seiner menschlichen Umgebung nur schwer entschlüsseln kann und soziale Kontakte lieber meidet. Als jemanden mit autistischen Zügen.

Der Vergleich mit Sherlock Holmes drängt sich bei Christopher Boone, der zentralen Figur in Mark Haddons Buch „Supergute Tage oder die sonderbare Welt des Christopher Boone“ (Wilhelm Heyne Verlag München, 8,99 Euro) geradezu auf, ermittelt doch auch hier eine Figur mit autistischen Merkmalen. In der Inszenierung von Stefan Otteni hat das auf dem Buch basierende Theaterstück gleichen Namens am Freitag im Hans Otto Theater Premiere. Der Kultroman des Briten Haddon wurde bereits 2012 als Theaterfassung in London aufgeführt, erwies sich als Publikumsmagnet und erhielt zahlreiche Preise. Auch die deutschen Theater haben „Supergute Tage oder die sonderbare Welt des Christopher Boone“ nun entdeckt.

Wellington, der Pudel der Nachbarn, liegt tot darnieder, durchbohrt von einer Mistgabel: Ein klarer Fall von Mord, wie ein Polizist feststellt und kurzerhand den 15-jährigen Christopher Boone verhaften will, der sich aber gegen die Verhaftung wehrt. Christopher beschließt fortan, den Fall aufzuklären und die Nachbarn zu befragen, mit denen er nie zuvor ein Wort gewechselt hat – nicht so einfach für einen Jungen, dem es schwerfällt, die Welt um sich herum zu interpretieren, dem nur mathematische Akribie als Entschlüsselungstechnik bleibt, der aber nicht in der Lage ist, eine Metapher als solche zu erkennen, weil ihm schlicht die parasprachliche Begabung fehlt.

Mediziner sprechen vom Asperger-Syndrom, einer schwächeren Form des Autismus. Oftmals werden Asperger-Patienten gar nicht als solche erkannt, höchstens als Eigenbrötler, Sonderlinge, von denen manche aber außergewöhnliche Fähigkeiten haben: Sie wissen zu jedem beliebigen Datum den Wochentag, können zehnstellige Zahlen miteinander im Kopf multiplizieren oder lernen über Nacht Klavier – Beethoven soll Asperger gehabt haben, Albert Einstein auch, sogar Bill Gates sagt man es nach.

Holger Bülow spielt den Christopher Boone. Der Kindskopf, der mit naivem Blick die Welt erkundet, liegt Bülow: Bereits in „Der Turm“ spielte er die Hauptfigur Christian, der sich verzweifelt an die Literatur klammert, während sein Weltbild wankt. Auch Norman in „Ladies Night“ spielt Bülow als großes Kind, das immer ein bisschen neben den Schuhen zu stehen scheint. „Ich habe schon oft spezielle Figuren gespielt, aber so etwas noch nicht“, sagt Bülow, der das Buch von Mark Haddon vor acht Jahren das erste Mal gelesen hat. „In unserer Gesellschaft sind alle irgendwie so gehetzt. Christopher hat da eine ganz andere Wahrnehmung.“ Er liebe die Wissenschaften der Welt, ihn anzufassen gehe aber meistens schief, mit Freunden könne er auch nicht spielen. „Einmal sagt ein Polizist zu ihm: ,Du gehst mir auf die Ketten.’ Er kann aber keine Ketten erkennen.“ Und ein Tag könne für ihn auch nicht unter aller Sau sein.

Die Geschichte lebt natürlich davon, dass die Hauptfigur sich Situationen aussetzt, die für den Zuschauer zwar unspektakulär sein mögen – für Christopher sind sie es allerdings nicht. „Das, was für uns normal ist, ist für ihn Terror“, sagt Bülow. Doch durch seine Fragen, die sonst keiner fragen würde, löst er Reaktionen aus, er deckt Geheimnisse auf, eine Familiengeschichte, die unheimliche Tiefe besitzt. Es entsteht eine Geschichte über das Erwachsenwerden, eine, die Mut macht – und die voller witziger Situationen ist. In die man sich aber erst mal hineinversetzen muss.

Bülow hat zwar Zivildienst in einer Behinderteneinrichtung gemacht – Autisten waren jedoch keine dabei, und Autismus sei ja auch nicht gleich eine Behinderung. Er habe Reportagen geschaut, klar, Bücher gelesen. Und Glück gehabt: Iris Finck ist die Mutter der HOT-Schauspielerin Meike Finck – und eine Expertin auf dem Gebiet der Autismus-Forschung. Einen ganzen Vormittag war sie zum Probenbesuch.

Mit „Supergute Tage oder die sonderbare Welt des Christopher Boone“ sei eine neue Form des Theaters gelungen, bei der die Geschichte aus der Perspektive der Hauptfigur von den anderen Schauspielern miterzählt wird, so Bülow. „Es wird alles aufgefahren, was das Theater zu bieten hat.“ Die Bühne sei einer Straße nachempfunden, es gibt Videosequenzen, in denen die Kamera Christophers Perspektive aufgreift. Und die wird sich im Laufe des Stückes ändern: „Es ist ein langer Weg, auf dem Christopher und Holger sich annähern“, beschreibt Bülow seine Beziehung zur Figur. „Und am Ende werden beide gemeinsam auf der Bühne stehen.“

Mark Haddon wollte übrigens gar keinen Autisten darstellen, wie er sagt, auch wenn er etwa die Kapitel des Buches in Primzahlen nummeriert habe. Sherlock Holmes jedoch ist ein ganzes Kapitel gewidmet – und sogar der Originaltitel des Buches, „The Curious Incident of the Dog in the Night-Time“, ist ein Zitat von – natürlich – Sherlock Holmes. Es wird Parallelen geben, ganz sicher.

Premiere am morgigen Freitag, 19.30 Uhr, im Hans Otto Theater in der Schiffbauergasse

Oliver Dietrich

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