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Kultur: Brave Mauerstürmer

Die Glienicker Brücke war erst am 10. November 1989 für Passanten frei. In Potsdam begann der Mauerfall nach Mitternacht am Grenzübergang Drewitz. Eine Chronik

Stand:

Die ersten Potsdamer Mauerstürmer waren kurzentschlossen: 19.30 Uhr war es, als vier Jugendliche an jenem Donnerstagabend in einem Trabant am Grenzübergang Drewitz – auf der heutigen Autobahn 115 bei Dreilinden – anrollten. Nicht einmal eine halbe Stunde war da seit Günter Schabowskis Mitteilung im Fernsehen über die Öffnung der Grenze vergangen. Die vier Jugendlichen, erinnerte sich später Hans-Dieter Behrendt, Oberstleutnant der Nationalen Volksarmee und damals verantwortlich für den Arbeitsbereich Passkontrolle an den Grenzübergangsstellen im Bezirk Potsdam, wurden von den Grenzern noch wegen „Nichtvorlage einer Reiseberechtigung“ zurückgewiesen. Schon das war ein Zeichen der Zurückhaltung: Nach Dienstvorschrift hätten die Grenzsoldaten diese Vier wegen „Verstoßes gegen die Grenzordnung“ festnehmen und der Volkspolizei übergeben müssen. Aber offenbar war man sich auch in Drewitz unsicher darüber, was eigentlich vor sich ging – denn immer mehr Autos stauten sich am Grenzübergang.

Trotzdem hielten sich die Uniformierten zunächst noch an ihre Befehle und wiesen auch die weiteren Ankömmlinge zurück. Anfangs glaubten sie, dass hier etwas falsch verstanden wurde oder Fehlinformationen im Umlauf waren. Es lag kein Befehl vor, der sie über die Äußerungen Schabowskis informiert hatte und ihnen entsprechende Weisungen gab. Doch wie an so vielen Grenzübergängen Richtung Westberlin wuchs die Zahl derer, die sich von der geöffneten Grenze selbst überzeugen wollten, sehr schnell.

Bis 22 Uhr zählten die Grenzsoldaten in Drewitz 50 Autos, dazu zahlreiche Passanten. Die Telefonate mit den Dienststellen in Berlin und Potsdam brachten keine Ergebnisse oder Befehle für die Grenzsoldaten. Die Lage wurde aber immer komplizierter, denn auch der Transitverkehr aus Westberlin staute sich, weil die Trabants und Wartburgs den Grenzübergang versperrten. Die anfänglichen Proteste und Beschimpfungen waren abgeklungen, Grenzer und Bürger kamen allmählich ins Gespräch. Irgendwann begann man gemeinsam Lieder zu singen: „Hoch auf dem gelben Wagen“, der Refrain verändert in „Aber der Trabi, der rollt“. Auch die Lkw der West-Spediteure stimmten in das immer lauter werdende Hupkonzert mit ein, erinnert sich Michael Erbach, langjähriger PNN-Chefredakteur und damals privat mit Nachbarn im Trabi in der Warteschlange, später.

Kurz nach Mitternacht wurde das Hupen vom Jubel der Wartenden übertönt. Aber anders als in Berlin, wo die Massen die Grenzer förmlich überrannten, ging es in Drewitz preußisch-akkurat zu: Jeder bekam seinen Stempel in den Ausweis gedrückt – von aufgeregten, aber auch gelösten und freundlichen Grenzbeamten, wie Augenzeugen berichten. Gegen 0.30 Uhr durften die ersten DDR-Bürger an der Grenzübergangsstelle Drewitz in den Westen reisen.

Was sie nicht wussten: Der Stempel im Personalausweis, genau über das Passbild, galt nicht nur als Reisegenehmigung – er wurde laut NVA-Oberstleutnant Behrendt auch als Ausbürgerung verstanden, eine Rückkehr in die DDR sollte später verweigert werden. Auch im Verlauf des 10. November standen viele Potsdamer in der Polizeiwache in der heutigen Henning-von-Tresckow-Straße noch brav Schlange für den Ausreisestempel.

Aber mit den „dienstlich-geordneten“ Grenzübertritten war es schon bald vorbei. Die Potsdamer kamen mit Trabi, Fahrrad oder Kinderwagen zum Grenzübergang Drewitz, weil es an der Glienicker Brücke noch nicht geklappt hatte. Und nicht nur Potsdamer: Auch andere DDR-Bürger aus anderen Teilen des Landes waren nach Potsdam gekommen. Obwohl die Grenze zur Bundesrepublik oft näher war, wollten viele von ihnen über die Glienicker Brücke, diesem geschichtsträchtigen Ort, in den Westen Berlins einreisen. Geöffnet wurde die Brücke dann am 10. November um 18 Uhr. Die über die Brücke strömenden Potsdamer wurden auf der anderen Seite mit Applaus begrüßt, freigiebige Geister sorgten für Sekt und Freibier, auch Blumen wurden verschenkt.

Der Reiseverkehr nahm in den folgenden Tagen nicht ab. Busse aus Westberlin fuhren bis zum Bassinplatz und brachten von dort zahllose Menschen zum Bahnhof Wannsee, wo sie mit Zügen weiterfuhren. Schon bald waren die offiziellen Grenzübergänge Drewitz, Stolpe und Staaken im Raum Potsdam dem Ansturm nicht mehr gewachsen. Die Grenzer planten neue Grenzübergänge unter anderem in Babelsberg, Teltow, Kleinmachnow und Falkensee, wie sich Behrendt erinnerte. Was für die neuen Übergänge fehlte, stellte der Senat von Westberlin zur Verfügung. Privatfirmen planierten die Bereiche, wo vor Kurzem noch die grauen Mauersegmente standen, Container mit Heizung, Toiletten und Telefonanschlüssen wurden geliefert. Erst mit dem 30. Juni 1990 wurden die Kontrollen an der Grenze eingestellt. jaha/PNN

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