Kultur: Brücken
Gedenken an Warschauer Gettoaufstand im al globe
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Der 19. April ist für alle Juden ein wichtiges Datum. An diesem Tage, dem Beginn des Pessach-Festes, begann im Jahre 1943 im Warschauer Getto der Aufstand durch die rund 1000 Mitglieder der jüdischen Kampforganisation. „Eine heroische und hoffnungslose Rebellion gegen die Unmenschlichkeit“, so Marcel Reich-Ranicki in seinen Lebenserinnerungen. Der Literaturkritiker entging der vollständigen Zerstörung des Gettos durch SS-Truppen, die mit der Sprengung der jüdischen Synagoge am 16. Mai 1943 für erledigt erklärt wurde, auf abenteuerlichem Wege. Von den erbittert Widerstand Leistenden hinter den Mauern, so Nikolai Epchteine, der Leiter des zum Klezmer-Konzert einladenden KIBuZ-Vereins, überlebte in den über 1000 unterirdischen Behelfssbunkern keiner.
Zum zweiten Mal richtete der jüdische Kulturverein nun eine musikalische Gedenkveranstaltung für die meist aus der ehemaligen Sowjetunion eingewanderten jüdischen Gemeindemitglieder aus. Der Andrang war groß, die von Tamara Lange interpretierten traditionellen Klezmer-Lieder zu hören. Die Sängerin, die über mehrere Jahre mit dem Übervater des Klezmer, dem Klarinettisten Giora Feidman, an Projekten arbeitete, wurde von der Violinistin Angie Driesnack-Zendeh und dem Gitarristen Diego Zendeh, dem Chiara-Duo, begleitet.
Die Veranstaltung überschnitt sich nicht nur zeitlich mit dem Fürbitt-Gottesdienst für den am Ostersonntag in Potsdam lebensgefährlich verletzten Ermyas M. Das alte, in Jiddisch vorgetragene Liedgut zog unsichtbar und still eine Verbindungslinie in den Köpfen der Zuhörer. Für die meisten im al globe gehörten Lieder wie „Scha Schtil“ oder „Huljet Kinderlech“ zu den Kindheitserinnerungen. An eine Zeit, in der Jiddisch wie selbstverständlich ein Teil deutscher und europäischer Kultur war. Das vorgetragene Programm konzentrierte sich mit Bedacht nicht auf den Getto-Aufstand, sondern zeigte Lieder einer Jahrhunderte bewährten Alltagskultur. Die Nachwirkungen einer ideologischen Barbarei ohne Vergleich, die ein ganzes Volk in die Vernichtung führte, beschäftigen nun ganz aktuell die Stadt Potsdam. Jetzt erwachen Politik und Bevölkerung und es ertönt der Appell „Farbe zu bekennen“. Aber auch die medienfernen Anlässe wie der sich zum 63. Mal jährende Beginn des todesmutigen Ghetto-Aufstandes könnten einen Kontext herstellen, um aus hilfloser Betroffenheit auch eine dauerhafte persönliche Handlungsmaxime entwickeln zu helfen. Toleranz hat etwas mit Geschichte und Erfahrung zu tun. Man kommt nicht umhin, sie zu leben. Fremdes muss erhört werden, um es zu Eigenem machen zu können. In den jiddischen Liedern erzählt Tamara Lange von Figuren wie dem Schneider Motl, der zu arm ist, seine Tochter zu ernähren oder dem Jungen, der im Regen Zigaretten verkaufen muss. Ihr Ton ist nicht nur wehklagend, im Gleichklang mit den explosiven Variationen der Violine bringt Lange auch immer ein musikalisches Augenzwinkern in ihre kräftige Stimme ein. Im letzten Lied des Programms geht es um den Rabbi, der mal weint, mal lacht. Im al globe setzt ein Murmeln ein. Einige singen schüchtern mit. „Die Lieder sind wie Brücken“, sagt Nikolai Epchteine, „sie dienen der Erinnerung“. Matthias Hassenpflug
Matthias Hassenpflug
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