Kultur: Büchner ist tot! Georg Büchner lebt!
Gymnasiasten auf Hermannswerder spielten „Woyzeck“
Stand:
Bestimmte Dinge funktionieren nur auf Hermannswerder. Wovor sich so manche Profi-Bühne drückt, da packen engagierte Zwölfklässler des Evangelischen Gymnasiums beherzt zu und schlüpfen für 75 Minuten, außerordentlich beeindruckend, in die Rollen lebensmüder, arroganter, brutal-oberflächlicher, verwirrter, zerrissener und gehässiger Figuren.
Büchner, wer spielt, wer liest denn heute noch Büchner?! Ist das nicht ein Jahrhundert-Langweiler, in unzähligen, meist endlos-nervigen Deutschstunden zerredet und dann achtlos beiseite gelegt?
Der Stadtsoldat Woyzeck, so mögen die Unterrichtsgespräche vielleicht gelaufen sein, verdient sich mühselig seinen Lebensunterhalt für Marie und sein Kind. „Woyzeck“, so der Hauptmann, „ist ein guter Mensch ... aber er hat keine Moral... Er hat ein Kind ohne den Segen der Kirche!“ Alle machen sich über Woyzeck lustig, und als seine Marie dem schmucken Tambourmajor schöne Augen macht, verliert der dünnhäutige Titelheld seinen letzten Lebensinhalt und zerbricht. Er ermordet Marie und wählt selbst den Freitod. Nun ja, in diesem Stück, vom 24-jährigen Georg Büchner (1813-1837) ersonnen, mag vorrevolutionärer Zeitgeist stecken, aber eben Zeitgeist nur, bedeckt vom Staub zweier Jahrhunderte. Büchner ist tot.
Nicht so auf Hermannswerder. Da geht schon seit vielen Jahren gutes Theater über die Bühne, lebensnahes, lebendiges und erfreulich authentisches. Hans-Albrecht Weber ist, nach seinem beachtlichen Kleist und Marivaux im Februar 2006, erneut ein großer Wurf gelungen. Nicht nur, dass der leidenschaftliche Lehrer seine Schützlinge diesmal für Büchner zu begeistern vermochte, er hat vielmehr jedem seine Rolle zugewiesen. Und das Erstaunliche daran ist, dass jeder diese seine Rolle angenommen und in einer bemerkenswert hohen darstellerischen Qualität verinnerlicht hat. Zuvorderst wären da Mirko Geißhirt als Woyzeck und Henriette Grapentin als Marie zu nennen. Es war ein Genuss, diese beiden jungen Menschen auf der Bühne zu erleben, denn sie gaben ihren Figuren nicht nur liebenswerte, sondern vorrangig verletzliche, schuldbewusste und zunehmend verzweifelte Züge. Das hat funktioniert, vom ersten Blick bis zur letzten Video-Szene. Allein schon, wie Henriette ihr (uneheliches) Kind liebte und hasste, allein schon wie Mirko die demütigenden Rasier- und Arzt-Szenen auszuhalten und zu spielen vermochte – das zeugte von Tiefsinn und Talent. Auch die anderen Rollen waren herrlich besetzt. Wirkungsvoll erwiesen sich Licht, Ton und vor allem das Bühnenbild. Deren gab es zwei, an der Kopf- und Stirnseite der Aula aufgebaut und den Zuschauer quasi in die Zange nehmend, denn linkerhand ging es überwiegend tragisch-düster zu, von einer exzellenten Videoprojektion (!) unterstützt, rechterhand pulsierte das helle, oberflächliche Leben. Diese Zangenfunktion übernahm auch der sehr gut vorbereitete „Chor“ zu Anfang und Ende des Stückes, der suggestiv kommentierend die Tragödie „Woyzeck“ umrahmte.
Wenn es denn etwas zu bemängeln gäbe, dann das nicht ganz fehlerfrei verfasste Programmblatt, zweitens ein (überwiegend jugendliches) Publikum, das an den unpassendsten Stellen kicherte und drittens der falsch betonte (aber sehr wichtige) Satz: „Bist du jetzt tot?“
Apropos „Tod“: Büchner lebt! Wer hätte das für möglich gehalten ...
Andreas Flämig
Andreas Flämig
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