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Kultur: Casting der Lebensmüden

Uraufführung des Stückes „Die letzte Reise“ des HOT-Jugendclubs unter der Leitung Remo Philipps

Stand:

Eine Tür, die sich öffnet, ein grellweißes Licht und ein Mädchen, das ein sehnsuchtsvolles „Mama!“ ruft. Fünf weitere Personen, die ihr lächelnd nachsehen. Dann das Dunkel und dann Applaus. Eineinhalb Stunden vorher ahnen die Zuschauer des Stückes „Die letzte Reise“, das der HOT-Jugendclub unter der Leitung des zukünftigen Regieassistenten Remo Philipp am vergangenen Freitagabend in der Reithalle uraufführte, noch nichts von der etwas wirr gestrickten Handlung um sechs Selbstmörder auf ihrer Reise ins vermeintliche Paradies.

Während immer noch vereinzelt Gäste einen Platz im Saal suchen, gehen die sechs ganz in nahezu göttergleiches Weiß gekleideten Protagonisten bereits auf Tuchfühlung mit ihrem Publikum, pöbeln es an oder flirten mit ihm. Einer mit wirrem Haar, von dem sich später herausstellen wird, dass er der 21-jährige Jonathan ist, der bereits zwei Doktortitel hatte, die ihm aber aberkannt wurden, weil seine Doktorarbeit augenscheinlich nicht von ihm selbst geschrieben wurde und der sich deswegen umbrachte, indem er eine Gabel in die Steckdose steckte, dieser Jonathan zeigt immer wieder mit dem Finger und zischt „Assoziativgesetz“ oder „inkonsequente Disposition“. Ein Klugscheißer, der seine Mitreisenden auch im Stückverlauf immer wieder nerven wird.

Weibliche Konkurrenz macht ihm Lena, die bereits auf dem Holzfloß, das mittels eines Flaschenzuges an den Zuschauern vorbei auf die Bühne gezogen wird, kreischt und mit überschlagender Stimme maßlos übertreibt in ihrer Verzückung über den blauen Himmel, das klare Wasser und die Insel, die am Horizont auftaucht. Auf dieser Insel – Hängematte, Schatztruhe, Palme und viel weißes Laken –, die zum Schauplatz einer Castingshow wird, erzählt sie später den anderen, dass sie sich aufgehängt hat, weil sie selbst so perfekt und alle um sie so furchtbar und unerträglich hässlich waren. Ein wenig passt das zu dem kleinen Olli, der sich bereits im Leben ständig langweilte und darum aus dem Fenster sprang und auch jetzt auf der Insel immerzu Beschäftigung und Unterhaltung wünscht. Bekommt er ja auch. Auf einer großen Leinwand werden die Selbstmörder von einem clownesk geschminkten Moderator, der, sicherlich gewollt, in seiner verletzenden Direktheit sehr an den Castingkönig Dieter Bohlen erinnert, mehrfach zum gegenseitigen Kräftemessen aufgefordert.

Was ein wenig untergeht, ist die Motivation der Protagonisten, dieses Spiel zu gewinnen. Auch der erwartete Gewinn wird nicht ausreichend herausgearbeitet. Statt dessen wird noch eine kleine Liebesgeschichte eingebaut, die wieder einmal zeigt, was die Jugend wirklich beschäftigt. Manfred, der Junge, der im Leben zu viel aß und sich vor Hunger ein Messer in den Hals steckte, trifft auf Antonia, die sich gar nicht selbst getötet hat, sondern nach einem Streit mit der kleinen Schwester in Trance auf die Straße tritt und von einem Auto überfahren wird. Für sie werden die Selbstmörder schließlich ihren Gewinn – einen Wunsch – opfern und sie ins Leben zurückschicken.

Natürlich spürt man, dass es in dem Stück um soziale Kompetenzen geht. Gegenseitig zuhören, Toleranz, Individualitäten zulassen. Trotzdem fehlt der „Letzten Reise“ Stringenz und der Mut, Dinge entweder wegzulassen oder sie intensiver herauszuarbeiten. Andrea Schneider

Andrea Schneider

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