Kultur: Chancen einer transnationalen Zivilgesellschaft Über das gegenseitige Beeinflussen von Kulturen
Weltweit leben etwa 125 Millionen Menschen nicht dort, wo sie geboren wurden. Viele von ihnen sind gezwungen, sich in einer Sprache und einer Kultur zu behaupten, mit der sie nicht aufgewachsen sind.
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Weltweit leben etwa 125 Millionen Menschen nicht dort, wo sie geboren wurden. Viele von ihnen sind gezwungen, sich in einer Sprache und einer Kultur zu behaupten, mit der sie nicht aufgewachsen sind. Ein Umstand, der auch als Glück beschrieben werden könnte, impliziert er doch eine gelungene Flucht, eine mögliche Lebensperspektive. Migration hat für die Betroffenen mindestens zwei Gesichter, für die Gesellschaften, die sie queren, multiplizieren sich die Perspektiven.
Dies zeigte sehr anschaulich eine Podiumsdiskussion, die im Anschluss an ein internationales Symposium am Dienstagabend im Foyer des Hans Otto Theaters stattfand. Unter dem provozierenden Titel „Wie viel Transnationalismus verträgt die Kultur?“ stritten Wissenschaftler, Politiker und Autoren über nationale Identität und kulturelle Vielfalt.
Das Angebot der Tagung, den Begriff „Transnationalismus“ auf seine Tauglichkeit zu prüfen, wurde, trotz der Versuche des Moderators Willy Jasper, ihn immer wieder in die Diskussion einzubringen, nicht aufgenommen. Dabei verweist seine hybride Konstruktion aus partikularen Interessen – Nationalismus – und ihrer Durchkreuzung in der Vorsilbe auf ein Grundproblem moderner Gesellschaften. Die Bewahrung einer vermeintlichen nationalen Identität funktioniert nur, wenn alles andere ausgeschlossen würde. Aber welche Nation könnte dann noch überleben? Was wäre eine Kultur ohne die Einflüsse anderer Kulturen?
Die Schwierigkeiten der Diskussion begannen schon bei den Begrifflichkeiten, die als ideologisch aufgeladen verworfen wurden und doch nicht verworfen werden konnten. Weder Multikultur noch Leitkultur seien zu gebrauchen. Multikulti sei kitschig, naiv, verlogen und falsch, brummelte der Historiker Karl Schlögel. Es müsse endlich einmal über die Zumutungen von Multikulti gesprochen werden. Vielleicht hört er kein Radio, oder wenigstens nie diesen – noch existierenden – kleinen charmanten Sender gleichen Namens. Es hätte ihn daran erinnern können, dass Multikulti nicht nur ein Wunschbild konfliktscheuer Sozialarbeiter ist, sondern gelebte Realität von Berlinern, die aus etwa 160 Nationen stammen.
Diese Zahl warf Marieluise Beck in die Diskussion. Sie verwarf den Begriff der Leitkultur, der allenfalls mit Habermas als Verfassungspatriotismus definiert werden könne, dann aber nichts mehr mit Kultur zu tun habe. Als ehemalige Ausländerbeauftragte der Bundesregierung erinnerte sie an den sehr unterschiedlichen Umgang des deutschen Staates mit Menschen, die als Ausländer, und mit solchen, die als Aussiedler kategorisiert wurden. Für Letztere war sie nicht zuständig, sie galten als Deutsche. Ihre Integration wurde vom Innenministerium organisiert – mit erheblich mehr finanziellen Mitteln als für die Integration der anderen auch nicht deutsch sprechenden, nicht in Deutschland geborenen, aber doch inzwischen hier lebenden Menschen.
Bahman Nirumand lernte als 14-Jähriger den „Faust“ auswendig. Er verstand nicht, was er las und war trotzdem begeistert. Als er mehr deutsch verstand und mehr verstehen konnte, erzählte ihm jemand von der jüngsten deutschen Vergangenheit. Sie entsetzte ihn und warf ihn zurück auf die eigene persische Herkunft. „Ohne den Standpunkt der eigenen Kultur, kann man sich nicht mit anderen Kulturen auseinandersetzen“, ist sich der heute 72-jährige Iraner sicher. Dagegen wand Wilfried Schoeller ein, dass Kultur immer schon die Anerkennung des Diversen sei. Multikultur wäre demnach sprachlicher Unsinn. Nicht-identisch müsse das Ziel lauten, forderte der Generalsekretär des P.E.N. Als wäre dies der Ausweg aus der nationalistischen Sackgasse. Lene Zade
Lene Zade
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