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Kultur: Clauert – Bracke – Klabund

„Märkische Dickköpfe“: Die Wiederentdeckung eines vergessenen Dichters

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„Märkische Dickköpfe“: Die Wiederentdeckung eines vergessenen Dichters Es spielte einst die spindeldürre Alte am Grabe eines Narren mit dessen ausgebleichten Knochen, tiefversonnen seufzend: Ja Clauert, die Zeit vergeht ... So begann am Totensonntag auch die szenische Lesung des Hans Otto Theaters, zum vorletzten Male im Steigenberger Maxx zu Potsdam, mit dem Eingedenken an den fast vergessenen Dichter Alfred Henschke, den keiner kennt. Klabund aber, eine Mischung aus Klabautermann und Vagabund, kennen noch alle, die gediegen-poetische Literatur dem kunstlos kolportierenden Schreibstil heutiger Tage vorziehen. Mit seinem kurzen Roman „Bracke" (1918) setzte er sich selbst ein ideales Denkmal, indem er vier Personen in einer zusammenschmolz: den deutschen Eulenspiegel aus dem Braunschweigischen, den märkischen Schalk Hans Clauert, die an ihren Utopien scheiternde und letztlich Übel anrichtende Romanfigur Bracke, und sein eigenes Wünschen und Wollen. Klabund (1890-1928) schrieb Lyrik, Prosa, sein heute vergessenes „Kreidekreis"- Drama (1924) feierte, lange vor der Brecht''schen Version, Erfolge in Berlin; der „deutsche Bänkelsänger“, schüchterner und höflicher als der Augsburger, war sogar mit Carola Neher verheiratet. Schön, dass Hans-Jochen Röhrig diesen wunderbaren Poeten aus dem dumpfen Verlies zog, um seinen „Bracke" zur Hauptfigur des vorletzten Parts der „Märkischen Dickköpfe" zu machen - alte Schule eben. Auch in der Gestaltung dieser mehr oder minder gut besuchten Matineen ist der Schauspieler, je nach Anlass, elastischer geworden. Der Raum war mit zwei grobhölzernen Versatzstücken szenisch eingerichtet, die Zuschauer, diesmal im Geviert gruppiert, wurden direkt einbezogen, und mit Annett Scholwin und Friedemann Werzlau begleiteten zwei geschickte Improvisationskünstler das perfekt abgestimmte Programm per Tanz und Schlagwerk. Den wie immer elegant formulierten Einführungstext verlas Hans-Jochen Röhrig stellvertretend für den erkrankten Knut Kiesant. Wolfgang Menardi erwies sich mit Temperament und Feuereifer als rechter Schalks-Bracke, wenn er, einen Schemel ersteigend, sein berühmtes „Tut Buße“ auf die Köpfe der Zuschauer herabschmetterte, oder, nach vielem Her und Hin dieser zum Scheitern bestimmten Ideal-Biographie, den herbeigerufenen Totengräbern mit aller nur möglichen Bitternis rät: „Beginnt die Lebendigen zu begraben!". Klabund schildert eine merkwürdig traurige Vita aus dem 16. Jahrhundert, welche sich, ein wenig wie Kohlhaas, am Guten zu schulen gedenkt und mit einem einsam-grotesken Tod unter einer Vogelscheuche endet, mitten im Winter. An der Wiege der Frühgeburt in Trebbin sah die Mutter in ihren Freundinnen die Musen versammelt. Auf Befehl seines Vaters darf Bracke die Schule nicht fortsetzen, weil er infrage stellte, was die Ordnung der Dinge zusammenhielt - der Unterschied zwischen Bürger und Knecht. Er wird Urmacher und Narr seines Herrn, des Kurfürsten Joachim von Brandenburg in Berlin. Der Morddolch in dessen Wappen gerät seiner Frau Griete zum Verhängnis, aber Bracke rächt sich, indem er Joachim ersticht. Zwischendurch ist alle Klugheit des Schalks, wenn er, nach einem Fememord an einem Raubritter, mit dem kurfürstlichen Brief sein eigenes Todesurteil überbringen soll, welchen er in die Havel wirft, damit er schneller befördert werde, oder einem Franzosen beweist, dass Schweine in Deutschland französisch sprächen, alle Esel aber deutsch. Auch eine Szene der Austreibung gab es, dem Pfeifer von Hameln vergleichbar, nur dass Bracke das Städtchen Trebbin von Läusen und Käfern befreite. Jedem Landstrich den Narren, welchen er braucht. Die gewählte Form einer szenische Lesung hätte an einigen Stellen etwas mehr Fokussierung vertragen, zumal die Schlagwerkimprovisationen, nur eine Melodie variierend, alles andere als mittelalterliches Kolorit einbrachten. Beim Tanz von Annett Scholwin hätte man sich den Einsatz wehender Stoffe gut vorstellen können. Die beiden Schauspieler jedenfalls gaben ihre Lesetexte in Hochform, witzig, elegant und klug, so soll es auch sein. Schade, dass nicht mehr Publikum den Weg zum Steigenberger fand: Die gespenstisch-närrische Szenerie bot ja einen sehr eigenständigen Beitrag zu diesem besonderen Sonntag im Monat November. Gerold Paul

Gerold Paul

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