Kultur: Da scheitert die beste Strategie
Neun Autorinnen und Autoren, in sechs Stunden an sieben Orten. Das ist einfach nicht zu schaffen
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Strenge und vorwurfsvolle Blicke blieben nicht aus. Berechtigterweise. Denn Literatur braucht Ruhe. Doch die 7. Brandenburgische Literaturnacht am Samstag im Hans Otto Theater war kein Ort der Ruhe für den, der viel sehen und hören wollte.
Neun Autorinnen und Autoren verteilt auf sechs Stunden, dazwischen szenische Lesungen durch Schauspieler des Theaters, im Ein-Stunden-Takt und verteilt an sieben Orten im HOT. „Lesen bis der Sommer kommt“ lautete das Motto der Literaturnacht im Rahmen von „Frühstart Schiffbauergasse“. Doch für manchen wurde daraus „Schnell laufen damit man noch rechtzeitig zum Vorleser kommt“. Es war zum Haare raufen!
Um kurz nach 18 Uhr hatte alles ruhig begonnen. Ein Blick auf den Büchertisch von Carsten Wist im Foyer, kurzes Probesitzen in dem Strandkorb, der, um dem Motto gerecht zu werden, neben der Tür zum großen Saal stand. Dann wurde gerechnet. Den Zeitplan mit den Lesungen in den Händen und den Anspruch im Kopf, wie schafft man es, so viele der, oft parallel stattfindenden Lesungen wie möglich zu besuchen, wurden zahlreiche Strategien entworfen. Sehr gute Strategien. Doch um es vorweg zu nehmen: Sie waren zum Scheitern verurteilt.
Die Lesung von Friedrich Christian Delius aus seiner Erzählung „Bildnis der Mutter als junge Frau“ begann um 19 Uhr. 15 Minuten später wollte Kerstin Decker ihre Heine-Biographie „Narr des Glücks“ vorstellen. Das ließ sich einrichten. Mit betonungsloser Stimme las Delius im großen Saal vor knapp 50 Gästen von einer jungen, schwangeren Deutschen, die im Januar 1943 durch Rom spaziert. Jeden Zuhörer mit auf diese Reise zu nehmen, gelang Delius nicht und so fiel es einem auch nicht schwer, nach 15 Minuten sich leise vom seinem Klappsitz zu erheben. Was es einem schwer machte, war der strenge, fast schon vernichtende Blick der Nachbarin. Schon fühlte man sich genötigt, sich zu erklären, dass dies nicht gegen den Autoren gerichtet war, dass berufliche Gründe einen zwangen. Doch ihr Blick ließ keine Erklärungen gelten. Außerdem drängte die Zeit.
Kerstin Deckers Lesung fand in der Tischlerei statt. Es war Anliegen des HOT, mit den Lesungen an verschiedenen Orten wie der Tischlerei, dem Magazin, dem Malsaal und der Unterbühne, dem Publikum das Haus zu öffnen, zu einer Entdeckungsreise einzuladen. Doch vor der Entdeckung steht die Suche. Und die erfolgte an diesem Abend immer in Begleitung vom Theaterpersonal.
Zur Tischlerei also. Es brauchte mehrere Anfragen bis geklärt werden konnte, wer einen auf den Weg dorthin begleiten durfte. Später am Abend war zu beobachten, dass es kurz vor Beginn der Lesungen Sammelpunkte gab. Dort rief das Personal dann „Zur Tischlerei“ oder „Ins Magazin“ um anschließend kleine Gruppen an den Ort des Geschehens zu führen. Dass jemand während der Lesungen diesen Ort wechseln wollte, damit hatte man hier wohl nicht gerechnet.
Doch die Kompetenzen unter dem Theaterpersonal wurden schnell geklärt und rechtzeitig kam man in die Tischlerei, wo Kerstin Decker mit dem Rücken zur Werkbank von Heine und seiner Begegnung mit Goethe und dem späteren Streit mit August Graf von Platen berichtete. Unterhaltsam wurde es aber erst, als sie von Heines Mord am Papagei seiner Ehefrau Mathilde berichtete, weil dessen Gekreisch ihm jeden vernünftigen Gedanken verleidete. Doch schon wieder saß man unruhig auf seinem Stuhl, weil gleich die nächste Lesung beginnen sollte: Harald Martenstein im großen Saal.
Tagesspiegel-Autor und Zeit-Kolumnist Martenstein war einer der Höhepunkte des Abends. Erwartungsgemäß. Unverkrampft und leutselig betrat er die Bühne und durchbrach auf eigenwillige Weise das starre Prinzip dieses Abends: Nur lesen, kein Gespräch. Bevor Martenstein aus seinem Debütroman „Heimweg“ las, stellte er sich und beantwortet gleich die drei bei seinen Lesungen am häufigsten gestellten Fragen. Danach ließ man sich gern ein auf Joseph und seine Frau Katharina in „Heimweg“ und ihre mit augenzwinkernder Leichtigkeit erzählte Geschichte. Der ausgefuchste Strategieplan musste unbeachtet bleiben.
Bei dem anschließenden Auftritt von Maxim Biller dann auch. Eigentlich wollte man ihm und seinen Geschichten aus „Liebe heute“ nur 20 Minuten geben, um dann ein wenig durch das Theater zu schlendern und einige der szenischen Lesungen zu besuchen. Doch wie Biller die Bühne betrat, ohne Gruß mit starrer Miene, war schnell klar, wer bei seiner Lesung einfach aufstand, den würde er mit strafendem Blick zur Salzsäule verwandeln. Also blieb man lieber sitzen. Aber die Nacht war ja noch lange nicht zu Ende.
Dirk Becker
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