Kultur: Das asthmatische Atmen der Ostsee
Der Buchpreis-Gewinner Lutz Seiler hat nun den Potsdamer Buchpreis „Der Kleine Hei“ erhalten
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Lutz Seiler ist aufrichtig beeindruckt. Vielleicht liegt es auch einfach daran, dass er doch zu sehr dem Bild des Schriftstellers entspricht, der lieber allein mit seinen Worten ist als im Scheinwerferlicht der Schinkelhalle, wo am Donnerstagabend 350 Besucher erwartungsvoll auf ihn blickten. Erst vor Kurzem wurde Seiler mit dem Deutschen Buchpreis geehrt, einer der höchsten Auszeichnungen des Landes. An diesem Abend wird ihn wieder ein Preis erwarten: Der „Kleine Hei“, den Buchhändler Carsten Wist als den Potsdamer Literaturpreis nun zum zwölften Mal verleiht – und den Seiler an diesem Abend annimmt, als wüsste er nicht, was er mit der quietschbunt bemalten Raubfisch-Trophäe anfangen solle.
In Seilers immerhin recht überschaubarem Werk, das größtenteils aus Gedichten und Erzählungen besteht, ist „Kruso“ ein Debüt: Weil es sein erster Roman ist. Er sei aufgeregt gewesen, als er zur Frankfurter Buchmesse für den Preis nominiert wurde, sagt Seiler. Und das, obwohl die Atmosphäre freundschaftlich, respektvoll, sogar lustig gewesen sei: Einen richtigen Wettbewerbscharakter habe die Veranstaltung nicht gehabt. Im Römer, dem altehrwürdigen Rathaus in Frankfurt am Main, habe es eine Stunde vor der Verleihung eine Pressekonferenz gegeben mit den Nominierten: Am Bewegungsmuster der Kamera solle man ja erkennen, wer den Preis bekommt, steckt Seiler jemand zu, irgendwas sickere ja schließlich immer durch, sagt man. Als die Kameras auf Thomas Hettche zielten, der wegen seines Romans „Pfaueninsel“ auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, dachte Seiler, es sei gelaufen. „Dann sah ich, dass die Kameras von RTL waren – und hatte doch wieder Hoffnungen.“
Sein Roman „Kruso“, der im Suhrkamp-Verlag erscheint, spielt nicht nur im Namen auf den maritimen Charakter des Inhalts an: Das Meer ist nicht nur in Daniel Defoes Äquivalent „Robinson Crusoe“ zentraler Sehnsuchtsort, sondern auch in Seilers Roman. Hiddensee ist der Handlungsort, der exotischste Ort, den man innerhalb der Grenze finden konnte, so Seiler, ein literarisches Dokument des Umbruchs – vielleicht seinem ostdeutschen Kollegen Uwe Tellkamp nicht ganz unähnlich, der mit „Der Turm“ 2008 ebenfalls den Deutschen Buchpreis einstrich. Der Protagonist Edgar Bendler, genannt Ed, flieht im Sommer 1989 auf die Insel, um als Abwäscher im fast schon legendären Restaurant „Klausner“ zu arbeiten. Hier schließt sich übrigens der Kreis zu Seilers Biografie: Er selbst habe damals als junger Mann diesen Job gehabt. Im Duktus der Schiffbrüchigkeit erzählt Seiler darin die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft.
„Warmes Bier ölt die Stimme“, sagt in Potsdam ein erkälteter Lutz Seiler, während er sich ein Glas eingießt, bevor er aus dem Roman zu lesen beginnt. Die Sätze, die er mit sonorer Vorleserstimme ins Mikrofon liest, erlauben es nicht, auch nur ein Rascheln in der gefüllten Schinkelhalle von sich zu geben. Seiler liest vom „schweren, asthmatischen Atmen der Ostsee“, jongliert mit Worten, in denen sich ein zärtliches Potenzial verbirgt, immer wieder mit Wortspielen zum Lachen aufzufordern. Das ist keine sperrige, überladene Sprache, sondern hier finden sich kurze, prägnante Beschreibungen, deren Pointen nur aus der Feder eines Lyrikers stammen können. Und die sind voller blühender Gegensätze: Wie der Koch etwa auf Französisch flucht, während sich das Speisenangebot auf Soljanka und Jägerschnitzel verjüngt.
Ein Chronist der Insel Hiddensee sei Seiler jedoch nicht geworden, sagt er, der vor seiner ersten Lesung auf der Insel schon Angst gehabt habe, dass der eine oder andere komme und sage, dass doch alles ganz anders gewesen sei, und davor, dass er diesen Ort verliere, wenn er ihn zum Gegenstand seines Buches mache. Nichts davon sei jedoch geschehen: Er konnte beides behalten, den Ort und das Buch.
Potsdam spielt übrigens im Roman des Wilhelmshorsters auch eine Schlüsselrolle, wenn auch nur eine ganz kleine: Das letzte Wort seines Romans sei „Potsdam“, verrät der Autor. Und siehe da, auf Seite 476 heißt es: „Eigentlich ist es nur ein sehr großer freier Platz, nichts als Sand, wie am Strand, drei Kilometer vor Potsdam.“ Jetzt haben wir tatsächlich das Ende verraten.Oliver Dietrich
Oliver Dietrich
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