Scorbüt spielen Rio Reiser in Potsdam: „Das Denken in Staatsgrenzen funktioniert nicht mehr“
Caroline du Bled und Heiko Michels spielen als Scorbüt am Samstag im Freiland – und zwar ihre Interpretation von Rio Reiser
Stand:
Herr Michels, Frau du Bled, beim letzten Scorbüt-Konzert in Potsdam vor vier Jahren haben Sie Hafenlieder gesungen, jetzt steht am Samstag im Freiland mit „Ceci n’est pas l’Europe“ Rio Reiser auf dem Programm. Ist das nicht ein weiter Sprung?
M: Rio Reiser ist ja nach den ganzen politischen Jahren auch am Meer gelandet. Aber die Zeit hat sich auch verändert mit der Ironie der Postmoderne. Es gibt heute wieder einen politischen Druck.
Und Rio Reiser passt da hinein?
M: Das kam mit der ganzen Flüchtlingsproblematik. In Reisers Lied „Blinder Passagier“ geht es ja darum, ob wir das Ziel erreichen oder untergehen werden. Das war damals sehr metaphorisch gemeint, er hatte ja den Boden unter den Füßen verloren und in einer Hippie-Kommune in Nordfriesland gelebt.
Jetzt bekommt es eine neue Bedeutung.
M: Ja, wir haben das auf einem unserer Konzerte gespielt, und es hat alle völlig getroffen. Dabei haben wir das Lied ja verfremdet, also teilweise auf Deutsch und teilweise auf Französisch gemacht.
Nimmt man dem deutschsprachigen Publikum da nicht die Bedeutung weg?
M: Wenn man Reiser 1:1 adaptiert, ist man auch schnell 1:1 wieder in den 70er-Jahren und in einem bestimmten Kontext drin. Die meisten, die sich mit Reiser beschäftigen, machen das derzeit ein bisschen poppiger, damit man besser dazu tanzen kann. Wenn man aber sprachlich ein bisschen was verändert – die meisten kennen ja die Texte –, dann wird die Perspektive verschoben und Dinge werden plötzlich brisant und beunruhigend.
dB: Aber es gibt auch Zeilen wie „Uns trennt nichts vom Paradies außer unsere Angst“. Damit könnte eigentlich auch zum Dschihad aufgerufen werden. Paradies, das ist ja eine totale Utopie, und das kann für jeden etwas anderes bedeuten. Dadurch, dass wir daran kratzen, sprechen diese Dinge plötzlich von selbst. Wir kommen nicht mit erhobenen Zeigefinger, aber das Beunruhigende ist, dass diese utopische Kraft auf einmal verloren ist. Das soll zum Denken anregen.
Rio Reiser ist aber doch explizit politisch.
M: Im Song „Der Kampf geht weiter“ ging es darum, wie viele noch hinter Gittern sind, es ging um die Befreiung von Ulrike Meinhof und so weiter. Das geht heute natürlich nicht mehr. Aber ich mochte den Song, ich mochte die Melodie, und um Gitter geht es ja heute auch wieder – ob man dahinter steht oder davor. Ich habe den Text dann so umgeschrieben, dass nur noch zwei Zeilen erhalten blieben, aber eine bestimmte Reflexion angestoßen war.
Mehr Reiser-Interpretation als Hommage?
M: Das kann man so sagen, auf jeden Fall.
Mit welchem Reiser-Song haben Sie angefangen?
M: Das Thema spukte eine ganze Weile herum, der Knaller war dann aber „Der Traum ist aus“, wo es diese Stelle gibt, an der Reiser immer wiederholt: „Gibt es ein Land auf der Erde, wo der Traum Wirklichkeit ist? Dieses Land ist es nicht.“
Und daraus wurde dann „Ceci n’est pas l’Europe“, also Europa ist es nicht?
M: Ja, das war plötzlich logisch, dass man das auf Europa beziehen musste, weil dieses Denken in den Staatsgrenzen nicht mehr funktioniert. Viele Menschen denken doch gar nicht mehr in europäischen Staatsgrenzen. Ich bin mit 20 durch Europa getrampt, ich habe eine französische Freundin, ein deutsch-französisches Kind, ich wechsle dauernd die Sprache. Aber, und das löst auch ein allgemeines Unwohlsein aus, das geht nicht mit diesem Europa, das da gerade gebaut wird.
Die Premiere für Ihr neues Programm war im „Roten Salon“ der Berliner Volksbühne. Hatten Sie Angst vorher?
M: Ja. Reiser ist einfach Material, das für viele Kult ist. Und wenn man das angreift, dann können die Leute auch wütend werden oder sagen, dass das schlecht gemacht sei.
Ist es auch problematisch, wenn eine Französin Rio Reiser singt?
dB: Ja, vielleicht. Zumal das nicht mein Background, nicht meine Kultur ist, ich kannte ihn vorher gar nicht. Aber diese Brisanz, diese politische Intensität – das hat mich fasziniert.
War Rio Reiser eine Art Hellseher?
M: Das ist übertrieben, aber ich glaube schon, dass sich bestimmte Prozesse in der Geschichte wiederholen. Reiser hat es geschafft, eine poetische Energie mit einer politischen Realität zu verbinden.
Werden Sie denn am Samstag auch Zeilen singen wie „Macht kaputt, was euch kaputt macht“?
M: Das nicht, aber es gibt zum Beispiel den „Rauchhaus-Song“, in dem es um Hausbesetzungen in Kreuzberg geht, und den wir in eine Samba-Stimmung gesetzt haben. Die dort beschriebene Verdrängung trifft heute eigentlich fast alle. Kaum einer, der in Kreuzberg wohnt, ist nicht schon im Prozess der Gentrifizierung.
Das Gespräch führte Oliver Dietrich
Scorbüt mit "Ceci n'est pas L'EUROPE" am Samstag, 5. März 2016, im Haus II im Freiland, Friedrich-Engels-Str. 22. Los geht es um 20.30 Uhr.
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