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Kultur: Das gebrochene Schweigen der Helene

„Der Kleine Hei“ für Julia Franck – ein Gespräch mit der Autorin und dem Buchhändler Carsten Wist, der diesen Potsdamer Literaturpreis vergibt

Stand:

Herr Wist, Ihren Literaturpreis „Der Kleine Hei“ überreichen Sie morgen, nachdem Julia Franck schon den Deutschen Buchpreis bekommen hat. So entsteht der Eindruck, dass Sie die derzeitige Popularität der Autorin nur als Werbung in eigener Sache nutzen.

Carsten Wist: Natürlich entsteht dieser Eindruck. Aber ich war früher da.

Wie meinen Sie das?

Julia Franck: Herr Wist hatte mir diesen Preis zugesprochen, noch bevor überhaupt bekannt wurde, dass mein Roman für den Deutschen Buchpreis nominiert wurde.

Carsten Wist: Im Juni habe ich vom Fischer-Verlag das Leseexemplar von „Die Mittagsfrau“ bekommen, war davon gänsehautmäßig begeistert und habe gesagt: Das Buch bekommt den Kleinen Hei.

Was war ausschlaggebend für diese Entscheidung?

Carsten Wist: Einfach die Faszination, die von dem Buch ausgeht. Julia Franck ist eine Autorin, die ich schon von ihren früheren Büchern her schätze. In „Die Mittagsfrau“ entwickelt sie einen eigenen Kosmos mit einer erzählerischen und literarischen Phantasie und einer unglaublich intensiven Sprache, die mich von Anfang an gefesselt hat.

Frau Franck, wie wichtig sind solche Preise für eine Schriftstellerin?

Julia Franck: Zum einen ist da die Freude über die Anerkennung für die eigene Arbeit. Zum anderen bedeuten Literaturpreise für Schriftsteller immer auch für ein paar Wochen oder Monate Unabhängigkeit, weil sie eine finanzielle Grundlage schaffen, die ein Arbeiten erst möglich macht.

Sie sprechen das mit einem solchen Literaturpreis verbundene Preisgeld an?

Julia Franck: Ja.

Welche weiteren Auswirkungen hat eine so bekannte Auszeichnung wie der Deutsche Buchpreis noch?

Julia Franck: Jeder Literaturpreis zieht natürlich Aufmerksamkeit nach sich und so wird der Roman unter Umständen auch von anderen Menschen entdeckt, die vorher nicht zu meinen Stammlesern gehörten.

Mit dem Kleinen Hei erhalten Sie einen Preis, der auf die Privatinitiative des Potsdamer Buchhändlers Carsten Wist zurückgeht. Wie oft kommt so etwas vor?

Julia Franck: Soweit ich weiß, ist das der einzige Literaturpreis, der von einem Buchhändler kommt. Das ist allein schon bemerkenswert wenn man bedenkt, dass kleine Buchhändler, die eine Lesung mit einem Schriftsteller organisieren, ein finanzielles Risiko eingehen. Es gibt bestimmte Buchhändler, die leisten es sich, wenn überhaupt, ein- oder zweimal im Jahr einen Schriftsteller einzuladen. Ein bewundernswertes Engagement, das hoffentlich dazu beiträgt, dass sich der kleine Buchladen gegen die großen Ketten durchsetzen kann.

Was spricht für den kleinen Buchladen? Beraten wird man doch auch bei den großen Buchketten?

Julia Franck: Weil der Buchhändler in seinem kleinen Laden weiß, wofür er seine Leser interessieren kann. Weil er seinem Kunden nicht nur einfach das Buch gibt, das er auch allein gefunden hätte, sondern ihn auch auf Titel aufmerksam macht, die neben der sonst üblichen geradlinigen Lesewahrnehmung liegen.

Herr Wist, vor fünf Jahren haben Sie den Kleinen Hei zum ersten Mal vergeben. Warum ein eigener Literaturpreis?

Carsten Wist: Das hat Julia Franck eigentlich schon angesprochen: Weil ich als Buchhändler auf bestimmte Bücher aufmerksam machen wollte. In so einem kleinen Laden muss man nicht, wie in einem Discounter einfach nur die Bestsellerliste abarbeiten, da kann man selbst Büchern zum Erfolg verhelfen. Mit dem Preis sage ich: Achtung, da ist eine große Entdeckung zu machen. Der erste Kleine Hei ging an Katja Oskamps „Halbschwimmer“. Ohne den Preis hätten wir von diesem Buch vielleicht drei Exemplare verkauft. So haben wir das Zehn- bis Fünfzehnfache verkauft.

Ist der Kleine Hei also vor allem eine Kaufempfehlung?

Carsten Wist: Nein, vor allem ein Dankeschön an die Autoren dafür, dass man so gute Bücher geliefert bekommt.

Der Kleine Hei soll aufmerksam machen auf weniger bekannte Autoren und ihre Bücher. Bei Julia Franck und ihrem Roman „Die Mittagsfrau“ ist das nun nicht mehr der Fall. Das Buch steht mittlerweile in den Bestsellerlisten.

Julia Franck: Nachdem ich den Deutschen Buchpreis bekommen hatte, habe ich mit Carsten Wist darüber gesprochen. Denn es ist ja zu befürchten, dass manche sich fragen, was das alles soll. Da bekommt Julia Franck den Deutschen Bücherpreis und obendrein noch den Kleinen Hei hinterher geschmissen. Ich habe den Vorschlag gemacht, den Preis an einen anderen zu vergeben. Doch Carsten Wist lehnte das ab, dafür stand seine Entscheidung schon zu lange fest.

Carsten Wist: Das wäre doch unmöglich. Dann würde der Preis an einen anderen Autoren gehen und am Tag der Verleihung sage ich: Eigentlich sollte hier Julia Franck sitzen, doch die hat ja schon den Deutschen Bücherpreis bekommen. Es hat ja einen bestimmten Grund, warum ich mich für dieses Buch entschieden habe. Daran ändert auch nichts der Deutsche Buchpreis.

Was bedeutet eigentlich der Titel „Die Mittagsfrau“?

Julia Franck: Das ist die meistgestellte Frage bei Lesungen. Hinter „Die Mittagsfrau“ steht die Legende aus der Lausitz von einer helllichten, weißen Frauengestalt, die mit er Sichel über dem Kopf denjenigen erscheint, die über die Mittagszeit arbeiten, und einen Fluch über sie verhängt. Nur, wenn sie ihr eine volle Stunde von der Verarbeitung des Flaches erzählen, können sie ihrem Fluch entgehen.

Im Roman selbst ist aber nicht sehr oft die Rede von der Mittagsfrau.

Julia Franck: Im Roman selbst spielt diese Legende keine große Rolle, sie wird nur in einem Nebensatz erwähnt.

Warum dann dieser Titel?

Julia Franck: Ich habe immer große Schwierigkeiten mit dem Titel eines Buches. Mir fällt es selbst Monate nachdem das Manuskript fertig ist schwer, einen solchen Abstand zu dem Text zu gewinnen, dass ich ihm ein Etikett, einen Titel geben kann. So ein Titel muss neugierig machen, darf aber gleichzeitig nicht zu viel verraten. Hinzu kommt, dass im Verarbeiten von Flachs für mich das Spinnen einer Textur steckt und deutlich macht, wie notwendig das Erzählen, das Weben von Geschichten für das Überleben ist. Die Mittagsfrau ist aber kein mythologischer Roman, insofern sich Helene diesem Dogma widersetzt und als unbedingten Rückzugsort ihr Schweigen wählt. Mit ihrer Wortlosigkeit bricht sie sämtliche Beziehungen. Nur ich als Erzählerin breche das Schweigen und erzähle von ihr.

Wobei der stärkste Bruch darin besteht, dass Helene ihren siebenjährigen Sohn allein lässt. Kann diese so folgenschwere Sprachlosigkeit als Ergebnis gescheiterter Hoffnungen gelesen werden?

Julia Franck: Es geht um den Verlust der Naivität und die Erkenntnis, dass sich Helenes Hoffnungen nicht erfüllen. Das Wichtige bei einer solchen Komposition ist, dass man ein Scheitern und Erlöschen in Form dieser emotionalen Verkarstung nicht beschreiben kann, in dem man das Kind Helene gefühlskalt zur Welt kommen lässt. Ich richte nicht moralisch über Helenes Entscheidung, ihren siebenjährigen Sohn Peter allein auf einen Bahnhof zurückzulassen. Mir ist es wichtig zu zeigen, vor welchem Hintergrund sich Hoffnungen entwickeln. Die Möglichkeiten der 20er Jahre, die Helene auf Bildung hoffen lassen, um unter Umständen vielleicht ein eigenständiges und geistig wie emotional erfülltes Leben führen zu können. Es ist wichtig, die kulturelle Blüte und den Rausch dieser Zeit zu zeigen, um die Implosion, die gescheiterten Erwartungen und die Zuflucht ins Schweigen nachvollziehbar zu machen.

Carsten Wist: Und der Roman zeigt durch seine unterschiedlichen Perspektiven, dass es nicht die eine Wahrheit gibt.

In „Die Mittagsfrau“ spannen Sie einen Bogen vom Vorabend des Ersten Weltkrieges über die 20er Jahre, die Zeit des Nationalsozialismus bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Wie viel Recherche haben Sie dafür betreiben müssen?

Julia Franck: Für diesen Roman habe ich sehr lange recherchiert, wobei nur ein verschwindend geringer Teil davon in das Buch eingeflossen ist. Ich habe vor allem aus einem Fundus geschöpft, der aus inneren Bildern besteht. Solche inneren Bilder wachsen in jedem familiären Gedächtnis. Darunter sind neben den Bildern, die wir als Kinder erzählt bekommen auch die, die wir nicht erzählt bekommen und die trotzdem überliefert werden.

Bilder und Geschichten, die durch Schweigen weitergegeben werden?

Julia Franck: Durch beides. Durch Erzählen und durch Schweigen.

In Ihrem Roman greifen Sie eine sehr persönliche familiäre Geschichte auf.

Julia Franck: Die Möglichkeit einer solchen Geschichte. Mein Vater ist ähnlich wie Peter in „Die Mittagsfrau“ von seiner Mutter ausgesetzt worden ist. Diese Begebenheit kenne ich, so lange ich lebe. Mein Vater ist dann sehr früh sehr tragisch gestorben und seine Mutter lebte nicht mehr als wir sie endlich gefunden hatten. Diese immer größer werdende Leerstelle, diese beunruhigende Vorstellung, dass eine Mutter ihr Kind, meinen Vater aussetzt, die hat mich schon Ende der 90er Jahre so stark beschäftigt, dass ich darüber ein Buch schreiben wollte. Aber es dauerte dann noch Jahre, bis ich merkte, dass diese Geschichte plastisch wird, dass ich wirklich beginnen kann.

Die familiäre Geschichte also als Skizze für die Bilder in Ihrem Roman?

Julia Franck: Vielleicht sind es auch nur Farben, aus denen diese Bilder entstehen. Die Farbzusammenstellung entspricht der realen Vorlage, das neue Bild ist dann aber etwas ganz eigenes.

Haben Sie die angesprochene Leerstelle mit „Die Mittagsfrau“ füllen können?

Julia Franck: Ja, sie ist damit zumindest mit einer Variante stark ausgefüllt. Wobei für mich noch immer spannend ist, was daran stimmen könnte und was nicht.

Das Gespräch führte Dirk Becker

Julia Franck liest anlässlich der Verleihung des Potsdamer Literaturpreises „Der Kleine Hei“ morgen um 19.30 Uhr in der Schinkelhalle auf dem Gelände der Schiffbauergasse aus ihrem Roman „Die Mittagsfrau“. Der Eintritt kostet 7, ermäßigt 5 Euro.

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