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Kultur: Das grelle lautlose Lied des Schmerzes Lia Rodrigues aus Brasilien zeigte bei den Tanztagen eine aufwühlende, blutgetränkte Bilderfolge

Spannungsvolle Stille. Zehn Tänzer gehen aufeinander zu, fassen sich an die Hände, drehen sich im Kreis.

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Spannungsvolle Stille. Zehn Tänzer gehen aufeinander zu, fassen sich an die Hände, drehen sich im Kreis. Schneller und schneller. Wie ein Karussell. Das Stampfen ihrer Füße zerschneidet die Stille wie dumpfe Schläge. Die Männer und Frauen lösen sich voneinander, um doch wieder schnell den Kontakt zu suchen. Plötzlich ein Schrei: furchterregend. Der Raum der fabrik verwandelt sich in einen Ort des Schmerzes, der Angst, der Hilflosigkeit. Es ist nur schwer auszuhalten, was die brasilianische Compagnie von Lia Rodrigues mit ihrer Inszenierung „Incarnat“ 60 ergreifende, aufwühlende, abstoßende Minuten lang auf die Bühne bringt.

Eine Frau wälzt sich am Boden, übergibt sich. Ein Mann tritt hinter sie: beginnt selbst einen kraftvollen, verkrampften Tanz. Bis zur Atemlosigkeit. Schließlich treten fünf entkleidete Männer auf die Bühne, verschlingen ihre Körper wie zu einer Skulptur. Doch auch sie zerschmilzt zu einer ausgemergelten, leblosen Masse. Scheinbar endlos reihen sich die Bilder aneinander, die auf immer neue Weise von Schmerz erzählen. Anrührend die Szene, als eine von Verzweiflung und Leere gezeichnete Frau ihre Brust entblößt und die Hände Wärme suchend an sie schmiegt: wie als Säugling bei der Mutter. Schmerz hat viele Gesichter, auch blutig klaffende Wunden. Und davon gibt es an diesem Abend reichlich zu sehen. Flaschenweise wird Ketchup verspritzt. Für einige zu viel. Sie verlassen die Vorstellung.

Die meisten aber verharren in ihrer emotionalen Anspannung. Sie ertragen die Bilder, die sie aus den Medien oft noch viel ungefilterter konsumieren. Die lautlos, schrillen Bilder auf dem Tanzboden ziehen berührend hinein in die Leiden dieser Welt, erinnern an die Kreuzigung von Jesus. Die Aufführung hat etwas Religiöses, so auch wenn einer dem anderen die Wunden „leckt“, ihn von seinem Blut befreit. Das zeugt von Nähe und Menschlichkeit. Zum Ende kippt die bleierne Schwere in eine groteske Zuspitzung um, die auch ein kurzes befreiendes Lachen ermöglicht. Dann bricht das Tier im Menschen sich vollends seine Bahn: Mit wilden Gebärden zerfetzt es eine Frau, reißt ihr die Eingeweide heraus.

Endlich wird aufgewischt: all das Blut, die verspritzte Milch der Piéta, die Gedärme. Wie bei einem Ritual wird versucht, das Leid zu entfernen. Alle versammeln sich zu einem murmelnden Gebet, aus dem eine schöne, mit gemalten, bildhaften Zeichen überzogene Frau empor wächst. Wie eine stolze Maya. Doch ihr äußerer Glanz ist nicht von Dauer. Im Nu ist die heile Fassade wieder zerstört.

Die Compagnie hat sich für diese ganz auf Musik verzichtende Aufführung sehr nackt gemacht – nicht nur äußerlich. Sie hat viel von sich selbst preis gegeben. Jeder einzelne Tänzer durchlebt, ganz auf sich gestellt, seinen eigenen Schmerz. Gern nimmt er anschließend die Zuwendung des anderen an. Man spürt, dass die Tänzer sich mitten drin befinden im Schmelztiegel des Lebens, wo Gewalt unverfroren regiert. Wie überall auf der Welt. Ein gemeinsames Gebet, ein Lied, ein Tanz kann helfen, sich gegenseitig zu stärken – und sei es für einen kurzen Moment. Wegschauen hilft nicht, auch falsche Hoffnungen sind fehl am Platz. „Incarnat“ – die Fleischwerdung – malt Bilder für das nicht Aushaltbare, für das, was uns aufzufressen droht, wenn Abend für Abend von immer neuen Massenmorden berichtet wird. Wirkte manches auch plakativ, war es doch keineswegs sinnentleert. Betroffen verlässt man das Haus und freut sich über die klare Abendluft.

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