
© promo/Waschhaus
Von Dirk Becker: Das große Männersterben
Heute liest Judith Hermann in der Waschhaus-Arena aus ihrem jüngsten Erzählband „Alice“
Stand:
Ein schönes und so entlarvendes Wort ist geblieben: Fräuleinwunder.
Als 1998 mit „Sommerhaus, später“ das Debüt der Erzählerin Judith Hermann erschien, war die deutsche Literaturkritik einhellig in ihrer Begeisterung. Diese klare und lakonische Sprache, die Ziellosigkeit der Figuren, dieses Lebensgefühl, das Judith Hermann in ihren Geschichten ansprach und das schnell als das Lebensgefühl einer Generation bezeichnet wurde, all das wurde als ein regelrechtes Wunder gefeiert. Und weil Judith Hermann beim Erscheinen von „Sommerhaus, später“ gerade 27 Jahre alt war, verpasste man ihr das Prädikat „Fräuleinwunder“.
Der Begriff entwickelte eine Eigendynamik und kaum jemand schien sich darüber zu wundern, dass eine junge Autorin, die ein herausragendes Debüt vorgelegt hatte, schnell als eine Art Wunder glorifiziert wurde. Ganz im Gegenteil, es folgten zahlreiche junge Frauen mit zahlreichen Erzählungsbänden und mancher sprach bald gar von Fräuleinwunderliteratur. Hat man Derartiges je über einen jungen Schriftsteller gehört, der mit seinem Debüt für Aufsehen sorgte? Gut, die Kritik gerät auch gern aus dem Häuschen, wenn ein Schriftsteller unerwartet ein überzeugendes Buch auf den Markt bringt, wie an dem Beispiel von Daniel Kehlmanns „Die Vermessung der Welt“ zu beobachten war. Zwar war dieser äußerst erfolgreiche Roman nicht Kehlmanns Debüt, doch auf die Idee, hier gleich von einem Wunder zu reden, kam niemand. Solche Ehre lässt man wohl vor allem den Frauen zuteil werden.
Fünf Jahre nach „Sommerhaus, später“ erschien 2003 mit „Nichts als Gespenster“ der zweite Erzählungsband von Judith Hermann. Es folgten Verfilmungen einiger ihrer Kurzgeschichten und von „Nichts als Gespenster“ als Episodenfilm. Um die Schriftstellerin Judith Hermann dagegen wurde es still. Bis zum Mai dieses Jahres.
Da erschien mit „Alice“ (S. Fischer Verlag, 18,95 Euro) das dritte Buch von Judith Hermann, aus dem sie heute in Potsdam liest. Es sind wieder Erzählungen und wieder in dieser klaren und lakonischen Sprache. Zu der Ziellosigkeit ihrer Figuren ist nun eine große Verunsicherung hinzugekommen. Es ist der Tod, der mit seiner stillen und so gnadenlosen Brutalität in das Leben der titelgebenden Figur Alice tritt.
Die fünf Erzählungen tragen mit „Micha“, „Conrad“, „Richard“, „Malte“ und „Raymond“ die Namen der Sterbenden beziehungsweise Toten als Titel. Es sind nur Männer, die Judith Hermann in diesem Buch sterben lässt. Wer mag, kann sich darauf gern einen pseudoemanzipatorischen Reim machen. Über den Inhalt von „Alice“ würde das dann genauso viel aussagen wie das Prädikat „Fräuleinwunder“ über eine Schriftstellerin.
Liest man die ersten Sätze spürt man schon nach wenigen Seiten, wie sehr man diesen vertrauten Hermannschen Tonfall in den vergangenen Jahren vermisst hat. Diese Melancholie, die wie ein feiner Film über allem liegt. Dieser gelegentlich protokollarische Stil, der nur scheinbar oberflächlich wirkt und diese tiefe Ruhe, die mancher in den früheren Werken als Ereignislosigkeit, im schlimmsten Fall auch als Langeweile bezeichnet hat.
Viel Sehnsucht ist in den fünf Geschichten in „Alice“ nicht mehr zu spüren. Es sind die Erinnerungen an die Sterbenden und Toten, die das Jetzt dominieren. Und trotzdem muss der Alltag bewältigt, müssen die banalsten Dinge erledigt werden. Auch wenn der Tod mit aller Macht in das eigene Leben und Erleben drängt, es gibt so viel da draußen, das kein Interesse zeigt, keine Rücksicht nimmt.
Judith Hermann erzählt von dieser unbewussten Rücksichtslosigkeit im Alltag, die das Abschiednehmen, das Loslassen, das Zurechtkommen mit dem Verlust erschweren und einen noch stärker der eigenen Hilflosigkeit aussetzen.
„Aber die Nonne hatte gesagt, so etwas habe sie sich gedacht, ihr Tonfall neutral, es konnte zustimmend gemeint sein oder verächtlich, schwer zu deuten. Sie hatte gesagt, na, es dauert nicht mehr lange. Dann war sie aus dem Zimmer gegangen. Wenn sie so spitz werden im Gesicht, dann dauert es nicht mehr lange“, heißt es in der eröffnenden Erzählung „Micha“. Die Nonne in dem Krankenhaus weiß, wovon sie spricht. Wenige Stunden später ist Micha tot.
Mancher Kritiker hat Judith Hermann vorgeworfen, dass die Auseinandersetzung mit dem letztgültigen Thema Tod nicht darüber hinwegtäuschen könne, dass ihren Figuren die Tiefe fehle. Das ist die Gefahr, wenn jemand Lakonie und einen sparsamen Stil mit Oberflächlichkeit verwechselt. Es gab sogar Stimmen, die über die neue Ernsthaftigkeit bei der Autorin mäkelten. Judith Hermann ist mittlerweile 39 Jahre alt. Das Prädikat „Fräuleinwunder“, wenn es denn je gepasst hat, ist mehr als überholt. Doch Manchen fällt es schwer, sich von liebgewonnen Einordnungen und einer damit verbundenen Erwartungshaltung zu lösen. Wer darauf verzichtet und sich vorurteilsfrei „Alice“ widmet, wird nicht gleich ein Wunder erleben. Aber Literatur, fein und stimmig, anspielungsreich und schmerzhaft, berührend und erschütternd.
Judith Hermann liest heute, ab 20 Uhr, aus ihrem Erzählungsband „Alice“ in der Waschhaus-Arena, Schiffbauergasse. Der Eintritt kostet 10, ermäßigt 7 Euro
Dirk Becker
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