Von Dirk Becker: Das Haus am märkischen See
Heute liest Jenny Erpenbeck in Potsdam aus ihrem Roman „Heimsuchung“
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Dieses Haus lässt sie nicht los. Sie hat es verloren, gibt es aber nicht auf. Sie will es nicht besitzen. Sie will nur, dass wieder Menschen die seit Jahren leeren Räume mit Leben füllen.
Jenny Erpenbeck hat von diesem Haus, dem sie mit „Heimsuchung“ ein ganzes Buch gewidmet hat und aus dem sie heute Abend in Potsdam lesen wird, Abschied genommen. „Soweit das überhaupt möglich ist“, sagt sie. Die eigene Geschichte ändere sich schließlich nicht durch einen solchen Abschied. Mit Geschichte meint Jenny Erpenbeck ihre Erinnerungen. Und davon hat die 41-jährige Schriftstellerin an dieses Haus an einem märkischen See viele.
Anfangs wollte Jenny Erpenbeck nur die Geschichte des leerstehenden Hauses erzählen, gefüllt mit ihren Erinnerungen. Dann hat sie begonnen zu recherchieren. „Ich habe dabei viele Dinge erfahren, die ich vorher nicht wusste“, sagt sie. So erfuhr sie von Klara, der jüngsten Tochter des Dorfschulzen, die langsam den Verstand verlor, entmündigt wurde, und an dem Tag, als das Stück Land am See, das einmal ihr gehört hatte und auf dem nun bald das Haus gebaut werden sollte, verkauft wurde, ins Wasser ging. Jenny Erpenbeck erfuhr auch von den jüdischen Besitzern, die das Haus am See 1939 verkaufen mussten, um mit dem Geld eine Ausreise zu finanzieren und so der tödlichen Nazifalle Deutschland zu entkommen suchten. Deren Reise endete jedoch in Kulmhof bei Litzmannstadt in einem Gaswagen, wo „Arthurs Augen aus ihren Höhlen getreten sind, während der erstickte, und Hermine im Todeskampf einer Frau, die sie nie vorher gesehen hat, auf die Füße geschissen hat“.
Unvermittelt schleudert Jenny Erpenbeck dem Leser den Tod von Arthur und Hermine entgegen. Lakonisch erzählt sie davon, den sanften Tonfall, mit dem sie über Seiten hinweg die Idylle am märkischen See beschreibt nicht ändernd. Schönheit, so klingt es mit diesem Ton an, ist immer nur der Schein, hinter dem sich die Abgründe, in den meisten Fällen die menschlichen, nur notdürftig verbergen.
Jenny Erpenbeck war verblüfft von den Schicksalen, die mit diesem Haus am märkischen See verbunden sind. Das Haus, das am Anfang des Romanprojektes noch leer stand, habe sich so immer mehr mit den Menschen und ihren Geschichten gefüllt. Es sind zwölf solcher Geschichten, persönliche Schicksale, die Jenny Erpenbeck auf fast schon betörende Art in „Heimsuchung“ erzählt und den Leser dabei eine Sehnsucht spüren lässt, die vielleicht in dem etwas diffusen Begriff Heimat zu fassen ist.
Das weite Feld Heimat in die verschiedensten Richtungen denken, sei das Grundmotiv ihres Romans, sagt Jenny Erpenbeck. „Heimat ist immer etwas ganz Persönliches.“ Das könne Liebe sein, aber auch ein Ort, an dem man sich wohl fühlt. Jenny Erpenbeck sitzt am Küchentisch in ihrer Berliner Wohnung, während sie von Heimat spricht. Und es genügt ein Blick auf die Bilder an den Wänden, die Möbel, die abgeschliffenen Dielen und das herumliegende Spielzeug ihres Sohnes, um zu spüren, dass hier Menschen leben, die sich an diesem Ort wohlfühlen.
Vor einem halben Jahr war Jenny Erpenbeck das letzte Mal in dem Dorf am märkischen See und hat nach dem alten Haus geschaut. Nach der Wende haben die früheren, enteigneten Besitzer auf Rückübertragung geklagt, es folgte ein Rechtsstreit mit ihrer Familie, die das Haus zuletzt gepachtet hatte. Im Jahr 2004 fiel die Entscheidung zugunsten der früheren Besitzer. Im vergangenen Jahr ist das Haus verkauft worden. Aber nach nunmehr 17 Jahren steht es noch immer leer.
In dieser Zeit hat Jenny Erpenbeck das leere Haus für ein paar Tage heimlich besetzt. In „Heimsuchung“ erzählt sie davon. Damals hat sie vielleicht noch daran geglaubt, dass das Haus bei ihrer Familie bleibt. Jetzt wünscht sie sich nur noch, dass der Leerstand bald ein Ende hat. In ein Haus und ganz besonders in dieses Haus am märkischen See gehört Leben.
Sie besitzt jetzt ein eigenes kleines Sommerhaus an einem anderen märkischen See. Sind die Erinnerungen noch so stark? Jenny Erpenbeck lächelt. „Ich liebe einfach die märkischen Seen“, sagt sie.
Jenny Erpenbeck liest heute, 20 Uhr, in Wist. Der Literaturladen, Brandenburger/ Ecke Dortustraße, aus „Heimsuchung“. Der Eintritt kostet 5, ermäßigt 4 Euro.
Dirk Becker
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