Kultur: „Das ist ein ganz anderer Fontane“ Christine Hehle über die Neuedition von „Vor dem Sturm“, die sie heute in Potsdam vorstellt
Frau Hehle, bei Theodor Fontane fallen einem vor allem „Die Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, „Effi Briest“ und „Der Stechlin“ ein. Aber „Vor dem Sturm“?
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Frau Hehle, bei Theodor Fontane fallen einem vor allem „Die Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, „Effi Briest“ und „Der Stechlin“ ein. Aber „Vor dem Sturm“?
Ja, „Vor dem Sturm“ hatte immer ein Dasein als Nebenwerk gefristet. Wobei die Zeitgenossen Fontanes diesen Roman durchaus als gleichrangigen Teil seines Gesamtwerkes empfunden haben.
Was hat „Vor dem Sturm“, Fontanes erster Roman, ins Abseits gedrängt?
Das kam erst später mit dem Einsetzen der akademischen Fontane-Rezeption. Und mit der Zeit hat sich so ein gewisses Fontane-Bild etabliert. Da sieht man den „Stechlin“, „Effi Briest“, „Die Poggenpuhls“, also die späten Romane, in denen sich Fontane in seinem literarischen Verfahren schon sehr stark der Moderne annähert. Die stehen bis heute im Vordergrund. „Vor dem Sturm“ ist da ganz was anderes.
Meinen Sie stilistisch anders?
Ja, wenn man diesen Roman liest, hat man einen völlig anderen Fontane vor sich. Hier erzählt er ganz anders. Ich würde mal salopp sagen: romantischer.
Zeitlich ist „Vor dem Sturm“ begrenzt auf den Winter 1812 und 1813. Aber inhaltlich hat Fontane weit ausgeholt. Vor dem Hintergrund der Befreiungskriege zwischen Napoleon und seinen europäischen Gegnern zeichnet Fontane ein Portrait der preußischen Gesellschaft in all seinen ständischen Facetten. Erzählt wird die Geschichte des Studenten Lewin von Vitzewitz, dessen Schicksal in den Strudel der historischen Ereignisse gerät.
Das ist eine ungeheuere Menge. Man hat den Eindruck, dass alles, was Fontane wusste und auch schon selbst unter anderem in seinem lyrischen Werk und den „Wanderungen“ thematisiert hatte, in diesen Roman eingeflossen ist. Was dazu geführt hat, dass dieser mit knapp 1000 Seiten länger ist als alle anderen Romane Fontanes und sich ausfächert in allerlei Nebenhandlungen und Nebenfiguren. Fontane hat auch sehr lange daran gearbeitet, fast 20 Jahre lang. Da viele Handschriften erhalten sind, lässt sich sehr gut erkennen, dass er immer wieder gekämpft hat, dies und jenes noch hineinbringen wollte und manches wieder gestrichen hat. Diese Unruhe und die Veränderungen in der Konzeption sind dem fertigen Werk auch anzumerken. Was aus heutiger Sicht natürlich auch sehr reizvoll sein kann.
Ausgerechnet diese Unruhe durch ständige Veränderungen?
Dieses Disperate, die Fülle der Themen und trotzdem nebenbei immer wieder etwas Neues aufzugreifen, das kann sehr faszinierend sein. Und dann einfach auch der Inhalt selbst, das Thema. Ich finde, die Napoleonische Epoche, also die Zeit um 1800, ist in der preußischen Geschichte vielleicht eine der spannendsten.
Warum ausgerechnet diese Epoche?
Weil da einfach so viel aufgebrochen, so viel anders wurde. Hier hat sich innerhalb kurzer Zeit so viel Spannendes ereignet. Und das ist in „Vor dem Sturm“ sehr gut repräsentiert.
Im Zusammenhang mit Fontanes „Vor dem Sturm“ wird sehr gern ein anderer Roman erwähnt, der sich ebenfalls mit der Epoche der Napoleonischen Kriege auseinandersetzt: Tolstois „Krieg und Frieden“. Ein Vergleich, der berechtigt ist?
Sowohl als auch. Natürlich habe ich im Rahmen der Neuedition von „Vor dem Sturm“ auch „Krieg und Frieden“ nach 20 Jahren wieder gelesen, um den Vergleich zu haben. Und man muss schon sagen: Tolstoi, das ist ein Roman von ganz anderem Zuschnitt. Erst einmal ist er mit 2000 Seiten noch viel länger. Hier ist die Handlung nicht nur auf ein paar Monate beschränkt, sondern beginnt schon 1805 und zieht sich bis 1812 hin, mit einem Ausklang in den 1820er Jahren. Und auch wenn „Krieg und Frieden“ hauptsächlich aus russischer Sicht beschrieben ist, wird hier die Perspektive weiter, europäischer aufgezogen. Ein großes, russisches Gesellschaftspanorama. Ein anderes Kaliber sozusagen.
Was war eigentlich der Anlass für eine Neuedition von Fontanes ersten Roman?
Es gibt im Berliner Aufbau Verlag schon seit den 90er Jahren das Projekt einer Fontane-Gesamtausgabe. Die nennt sich die „Große Brandenburger Ausgabe“, in der schon die „Wanderungen“ vollständig erschienen sind, auch die Gedichte, dann zwei Bände Tagebücher, auf die jetzt bald ein weiterer Band Reisetagebücher folgen wird. Eine Abteilung beschäftigt sich allein mit dem erzählerischen Werk, das 21 Bände umfassen wird und das wir schon fast abgeschlossen haben. Uns fehlen da noch zwei Bände.
Nun ist „Vor dem Sturm“ doch schon in verschiedenen Ausgaben erschienen und auch noch erhältlich?
Das Editionsprinzip dieser Ausgabe besteht darin, dass der Roman so wiedergegeben wird, wie er in der Erstausgabe erschienen ist. Darum holt man sich aus einer Bibliothek oder einem Archiv eine solche Erstausgabe, vergleicht diese mit dem für die Gesamtausgabe geplanten Text und bringt den orthografisch und nach der Interpunktion genau in den Zustand, wie er beim ersten Mal erschienen ist. Dazu gehört auch, Druckfehler zu finden und auszubessern. Dabei gibt man aber immer an, was verändert wurde, damit das für jeden nachvollziehbar ist.
Eine Feinarbeit, die wohl nur den Germanisten und den bibliophilen Laien erfreuen wird?
Das ist die Arbeit am Text, die erfolgt zuerst. Darauf folgt die Erschließungsarbeit, also die Kommentierung. Da heißt es, sich die Entstehungsgeschichte des Romans genau anzuschauen. Was hier sehr umfangreich war, weil Fontane so lange an „Vor dem Sturm“ gearbeitet hat.
Wie haben Sie diese Vorgeschichte rekonstruieren können?
Indem ich mir Fontanes Briefe und Tagebücher angeschaut habe. All das, wo er sich selbst zur Entstehung des Romans geäußert hat. Dann suchte ich nach „Überlieferungszeugen“, also seinen Handschriften und Notizbüchern, in denen er Konzeptionen für den Roman festgehalten hat. Aber auch sein Arbeitsmanuskript, an dem er immer wieder über die ganzen 20 Jahre der Entstehungszeit hinweg gearbeitet hat. Das ist zum Glück erhalten und liegt im Stadtmuseum Berlin. Da sieht man dann genau, wie sich die Konzeptionen verändern, wo sich Namen oder die Handlung völlig verändern.
Eine Detailarbeit, die auch eine Art Einführung in „Vor dem Sturm“ für den heutigen Leser ist?
Ja, zusätzlich mit einem Sachkommentar, der sich hier „Anmerkungen“ nennt, einfach aus dem Grund, weil Fontane, wie in vielen seiner andere Werke, auch hier historische Hintergründe nur andeutet. Oder er benutzt regionale Wendungen im veralterten Sprachgebrauch. Hinzu kommen die Quellen, die Fontane genutzt hat.
Quellen?
Ja, er hat zeitgenössische Quellen wie Memoirenliteratur verwendet. Und zum Glück habe ich mir, trotz Kriegsverluste, alle wesentlichen verschaffen können. Zum Teil zitiert er wörtlich aus den Quellen, zum Teil redigiert er sie oder formuliert und strukturiert sie um.
Oh, da sind wir ja auf einmal im tagespolitischen Geschehen.
In diesem Fall ist das ein Gewinn für den heutigen Leser, wenn man sieht, was Fontane genutzt und wie er es verändert hat. Was sich in „Vor dem Sturm“ ganz anders liest, als es vielleicht tatsächlich in der Realität damals war.
Das Gespräch führte Dirk Becker
Christine Hehle spricht über die Neuedition von „Vor dem Sturm“ am heutigen Donnerstag, 19 Uhr, im Theodor-Fontane-Archiv in der Villa Quandt, Große Weinmeisterstraße 46/47. Der Schauspieler Harald Arnold liest Passagen aus dem Roman. Der Eintritt kostet 5 Euro, Anmeldung unter Tel.: (0331) 20 13 96. Die zweibändige Neuedition ist im Berliner Aufbau Verlag erschienen, umfasst 1232 Seiten und kostet 68 Euro
Christine Hehle, geb. 1969, studierte germanistische Mediävistik sowie Französisch und Latein. Viele Jahre war sie Mitarbeiterin im Fontane-Archivs in Potsdam. Sie lebt in Wien. kip
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