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Interview zu "Neun Sinfonien an vier Tagen": „Das ist eine sportliche Leistung. Ein Marathon“

Antonello Manacorda über Beethovens Sinfonien als Gesamtwerk, die Philosophie in der Musik und das Streben nach Perfektion

„Alle neun Sinfonien an vier Tagen“ heißt es im Februar bei der Kammerakademie Potsdam. Ein Konzertmarathon mit den Sinfonien von Ludwig van Beethoven, wie ihn das Orchester noch nie bestritten hat. Die PNN stimmen in den kommenden Wochen mit regelmäßigen Beiträgen auf dieses Konzerterlebnis ein. Zum Auftakt spricht Chefdirigent Antonello Manacorda über das Projekt.

Herr Manacorda, warum tun Sie sich und Ihren Musikern das an, alle neun Sinfonien von Beethoven an vier Tagen zu spielen?

Aus verschiedenen Gründen. Wir hätten das auch wie bei den Sinfonien von Franz Schubert über mehrere Spielzeiten verteilen können. Aber das machen bei Beethoven viele Orchester so. Deswegen habe ich mir gedacht, wir gestalten das als ein Mini-Festival, das dem Publikum die Möglichkeit gibt, einen anderen Blick auf dieses Werk zu werfen.

Was meinen Sie mit einem anderen Blick?

Man vergisst zu schnell die Verbindungen zwischen den Sinfonien. Oder kennt sie vielleicht gar nicht. Denn kaum einer hört sich zu Hause alle neun Sinfonien von Beethoven hintereinander an. Aber mir sind diese Verbindungen sehr wichtig. Es gibt beispielsweise sehr viele und auch unerwartete Verbindungen zwischen der 2. und 9. Sinfonie. Solche Sachen, die man sonst nicht hört. Und wenn man an diesen vier Tagen alle Sinfonien hört, erkennt man vielleicht auch, dass diese auch als ein ganzes Werk zu sehen sind.

Diese Verbindungen, können Sie das präzisieren?

Ja, es gibt da diesen D-Moll-Akkord in der 2. Sinfonie, der so tief geht, dass man sofort an die 9. denken muss. Die 4. ist zum Beispiel eine ziemlich unbekannte Sinfonie, die aber schon sehr viel von der 6. und auch der 8. Sinfonie hat. Die 8. ist dann so kompakt und gleichzeitig eine Verbindung zwischen der 2., 4. und 9. Sinfonie. Die Themen und Maßstäbe sind hier so klein, aber gleichzeitig schreibt Beethoven vier- oder fünfmal F und er will, dass es platzt. Da hat man die Möglichkeit, schon den Klang der 9. zu hören.

Was bedeuten diese vier Tage für die Musiker der Kammerakademie?

Für die Musiker ist das auch eine ungewöhnliche Erfahrung. Wir müssen in den zwei Wochen davor unglaublich viel arbeiten, um zu gewährleisten, dass wir an allen vier Tagen diese Werke auf einem hohen Niveau spielen. Das ist eine sportliche Leistung. Ein Marathon. Gleichzeitig hat man dann einen total anderen Blick auf das Ganze. So, als würde man den gesamten Kant innerhalb von vier Tagen lesen oder Platon oder Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Man widmet dem einfach seine ganze Zeit und taucht dadurch viel tiefer ein. Mal sehen, ich bin gespannt. Vor allem, weil es eine physische Herausforderung für uns alle ist. Ich hoffe, dass wir das gut schaffen.

Aber gilt dieser Anspruch, auf hohem Niveau zu spielen, nicht auch, wenn Sie nur eine Sinfonie von Beethoven spielen würden?

Wenn man eine Sinfonie in einem Konzert spielt, konzentriert man sich viel stärker auf die kleinen Details, kleine Takte und Perioden. Wenn man alle Sinfonien von Beethoven macht, bleibt keine Zeit dafür. Man hat auch gar nicht den Kopf dafür, sich großartig Gedanken darüber zu machen, wie man beispielsweise diesen oder jenen Takt spielt. Aber man geht dank des großen Bogens tiefer hinein, nicht dank der kleinen Arbeit. Ich habe das schon erfahren, weil ich das schon einmal gemacht habe. Das bringt auch viel für die Interpretation.

Ist an den vier Tagen dann ein anderer Beethoven zu hören?

Sicher. Auch weil wir in diesem Fall nur Beethoven spielen. Wir schwimmen so gesehen nur in diesem einen See. Wenn man nur eine Sinfonie macht, hat man sicherlich einen anderen Beethoven. Und es ist sicher auch ein anderer Beethoven als der, an den viele gewöhnt sind. Wir sind ein Kammerorchester und wir spielen mit einer kleineren Besetzung. Und wir spielen auf historischen Hörnern, Trompeten und Posaunen. Das gibt einen besonderen Klang. Deswegen werden diese Beethovenkonzerte wahrscheinlich auch eine etwas ungewöhnliche Erfahrung für das Publikum werden.

Aber auch ein Beethoven, der durch die kleinere Besetzung viel klarer wird?

Wahrscheinlich weil wir kleiner sind, wird er auch ein bisschen klarer. Aber dafür müssen wir dann manchmal kämpfen, um den Klang großer Streicher zu kriegen. So wie die großen Sinfonieorchester kämpfen müssen, um die 1. und 2. Sinfonie heller zu spielen. Jeder muss ergänzen, was er nicht hat. Aber wir spielen natürlich in zwei verschiedenen Besetzungen. Eine kleinere für die kleineren Sinfonien, aber die 3., die 5., die 7. und die 9. spielen wir dann mit einer größeren Besetzung.

Was macht die neun Sinfonien von Beethoven für Sie so besonders?

Beethoven geht hier zum Kern des Seins. Sehr philosophisch in dem Fall, sehr moralisch. Aber nicht rhetorisch-moralisch. Es geht um die Existenz. Wenn man in so ein Riesenwerk eintaucht, ist das auch eine Möglichkeit, über sich selbst nachzudenken. Warum sind wir hier? Was machen wir? Deswegen habe ich Proust und Platon und Kant genannt, weil sie große Philosophen des Lebens waren und man von ihnen wirklich viel über das Leben verstehen und für das Leben lernen kann. Das Publikum wird durch diese Musik in Beethovens moralisches Universum hineingezogen. In seinen Versuch, zu erklären, warum der Mensch auf der Erde ist und was er tun sollte, um gut zu sein. Es wird für das Publikum wirklich ein philosophisches Wochenende. Es ist in dieser Musik alles so gut geplant. Zunächst sind die 1. und 2. und dann kommt die 3., die Eroica, in der es um so schwere Themen wie Diktatur, Führung und politische Figuren geht. Dann die 4. und die 5., von der man ganz tief angezogen wird. In der 6. bietet Beethoven die Natur als Lösung an. Und dann die so große Energie in der 7., die wiederum auch sehr traurig und dramatisch im zweiten Satz ist. Die 8. wirkt dann wie eine kleine Pause, ein Auftakt für die 9. Und mit der 9. Sinfonie mit dem Chor am Ende ist das dann eine Art Befreiung wie von einer großen Arbeit. Es ist dramaturgisch auch sehr gut konstruiert.

Wie wichtig ist Ihnen auch die Auseinandersetzung mit Beethovens Biografie und auch den zeitgeschichtlichen Bezügen?

Natürlich ist das sehr wichtig. Das findet sich ja auch ganz klar in seiner Musik. Die Revolution, Kants Philosophie, die Wichtigkeit des Seins und die Entwicklung der Philosophie. Das alles ist für Beethoven sehr wichtig. Deswegen hat er die 3. Sinfonie mit so einer traurigen Kritik an Napoleon geschrieben. In seiner Musik ist es ganz deutlich, aber man muss nicht unbedingt wissen, was die Französische Revolution ist, um Beethoven zu verstehen. Es ist eher umgekehrt: Um die Französische Revolution zu verstehen, muss man Beethoven hören. Das ist alles so deutlich in seiner Musik. Dieser Trauermarsch in der Eroica zum Beispiel. Und der letzte Satz in der 5. Sinfonie, wo die Lösung in C-Dur übertrieben festlich ist, so wie ein Jubel nach einem gewonnenen Kampf. Beethoven hat sich sehr nah an der französischen Musik dieser Zeit orientiert. Mit Beethovens Sinfonien bekommt man ein riesiges Gemälde seiner Zeit, einen großen Blick auf die Philosophie, die Politik und das Schicksal der Menschen. Gott sei Dank haben wir Beethoven gehabt.

Wenn Beethoven sich in seiner Musik so stark mit zeitgeschichtlichen Themen befasst hat, warum hat diese Musik heute noch für uns so einen hohen Stellenwert? Weil es ihm letztendlich doch immer um menschliche Grundthemen ging?

Ich glaube, das ist es. Es sind menschliche Grundthemen, so wie es bei Bach religiöse Themen sind, menschlich-religiöse. Es ist sehr interessant, weil Beethoven ein so zerstörter Mensch war. Nicht nur, weil er taub wurde, sein ganzes Leben war eine einzige Qual. Ständig ist er umgezogen, nie zur Ruhe gekommen, immer getrieben. Sehr interessant ist es, wenn man seine Partituren liest, also die Urtext-Patituren. Da gibt es so viele Korrekturen, weil er alles wieder und wieder überarbeitet hat. Nicht so wie Mozart oder Bach, nicht so wie ein Fluss des Genies, wo alles nur so auf das Papier fliegt. Beethoven war ebenso ein Genie, aber die ganze Zeit über so quälend. Deswegen ist er uns allen näher als Mozart oder Bach.

Diese Qual, weil Beethoven einerseits getrieben von seinem Perfektionsanspruch war, andererseits aber wusste, dass er dem nie gerecht werden konnte, sondern sich höchstens nur annäherte?

Beethoven ist der Komponist, der uns zeigt, dass wir nichts wissen können. Dass eigentlich nichts vollendet ist. Alles kann weitergehen. Das Interessante an ihm ist, dass er so viel machen, so viel erreichen wollte. Dabei war er immer ein solcher Perfektionist, der wusste, dass er eigentlich keine Antwort geben kann. Bei Schubert ist es ganz anders. Da haben wir manchmal so einen Fluss von Naivität, eine ganz tiefe Traurigkeit, eine Verzweiflung. Beethoven hätte sich hier gefragt: Warum bin ich verzweifelt? Schubert fragt sich das nicht. Bei Schubert ist es viel naiver, nicht weniger traurig oder weniger tief, aber das kommt alles aus einer anderen Perspektive. Beethoven wurde von dieser Frage gequält: Warum ist das so?

Das Gespräch führte Dirk Becker

Antonello Manacorda, 1970 in Turin geboren, ist Dirigent.

Sein Violinstudium bei Sergio Lamberto am Conservatorio Giuseppe Verdi schloss Manacorda mit Auszeichnung ab. 1997 gründete Manacorda das Mahler Chamber Orchestra, dessen Vizepräsident und Konzertmeister er acht Jahre lang war. Dann entschied er sich, eine Karriere als Dirigent zu verfolgen.

Seit 2010 ist Antonello Manacorda Chefdirigent und künstlerischer Leiter der Kammerakademie Potsdam. (PNN)

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