Werbeaktion zur Johannes-Passion: Das ist keine Taube
Ud Joffe wirbt mit einer speziellen Kunstaktion für die Johannes-Passion in der Erlöserkirche.
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Um eine Leidenschaft für die Johannespassion zu entwickeln, muss man weder christlich-religiös noch ein Bach-Fan sein. Man muss einfach nur Ud Joffe zuhören. Der Dirigent des Neuen Kammerorchesters Potsdam (NKOP) hat seine ganz eigene Sicht auf die Brisanz der Passion, die Johann Sebastian Bach 1724 uraufführte. „Wenn ich probe, versuche ich immer, den Bezug zur Realität herzustellen“, sagt Joffe. Und fragte sich und seine Sänger diesmal nach Edward Snowden.
Ist der Whistleblower und Ex-Geheimdienstmitarbeiter ein Märtyrer? Und wenn ja, welche Rolle spielt dann Deutschland im Skandal um Abhörmethoden des US-Geheimdienstes NSA und die Verfolgung Snowdens? „Moral und Gesetz stehen in einem andauernden Konflikt“, sagt Ud Joffe, und die Frage sei, ob der Staat sich hier hinter seinen Gesetzen verstecke – oder zu seinen eigenen moralischen Überzeugungen stehe. Und andererseits: Wie heldenhaft war es tatsächlich, was Snowden getan hat? „Ohne das selbst entscheiden zu wollen, muss ich fragen, ist er ein Freiheitskämpfer – oder hat er tatsächlich die Sicherheit der westlichen Welt in Gefahr gebracht?“, so Joffe. Ist er Friedenstaube oder Raubvogel?
Was wie das eine aussieht, kann oft genug das andere sein, findet Joffe. Das hat er bei seiner geheimnisvollen Werbeaktion für das Passions-Konzert am Samstag, dem 5. April, in der Erlöserkirche erfahren. Wochenlang rätselte die halbe Stadt, was sich hinter den Anzeigen und Plakaten wohl verbirgt: ein weißer Vogel, den Kopf geneigt, die Flügel – wie am Kreuz – nach links und rechts gespreizt. Darunter standen nur Datum und Ort. Nichts von der Passion, nichts von der Herkunft des Vogels. „Viele hielten ihn für eine Taube“, sagt Joffe und lacht. Aber es war das falsche Tier für die richtige Geste, in Wahrheit handelt es sich um eine Möwe, ein fischfressendes Raubtier also.
Joffe entdeckte ihre Anmut bei einem Familienausflug an die Ostsee. Sein Sohn fütterte die Vögel mit Brotkrumen, er fotografierte – und stellte schnell fest, wie ähnlich die in der Luft verharrenden Tiere der Kreuz-Figur waren. „Das hatte etwas Heiliger-Geist-artiges.“ Immer weiter schoss Joffe Bilder um Bilder, bis er eine Möwe mit dem richtigen Grad an Unschuld eingefangen hatte. Dann begann er, das Ganze mit Pinsel und Farbe nachzumalen – und lud auch seine Sänger ein, sich vor oder nach den Proben an dem Motiv zu versuchen: 25 Bilder entstanden so. „Man lernt bei solchen Aktionen schnell, was noch so alles in den Menschen steckt“, sagt Joffe.
Und genau darum geht es für ihn bei der Kultur. Die Politik frage oft nur nach der Pro-Kopf-Förderung für ein Orchester, einen Chor. „Die verstehen nicht, dass nicht die Konzerte, sondern die Proben unser Lebensinhalt sind.“ Dadurch erst wachse eine Art Sozialgewebe, die Beziehungen zwischen den Menschen vertieften sich durch das Gestalten selbst – und nicht durch den Konsum von Kultur, den Konzertbesuch einmal im Monat. „Letztendlich ist es das, was eine Stadt zu mehr als einem Wohnort macht“, sagt Joffe.
Und als Werbeaktion für die JohannesPassion hat es exzellent funktioniert. Für Joffe ist es bereits die 8. Passion, die er aufführt, bisher habe es auf den Plakaten immer dasselbe zu sehen gegeben: ein Kreuz, eine Pietá. „Mittlerweile ist es ja total problematisch, an Litfaßsäulen noch aufzufallen, mit kleinteiligen Motiven geht man dort komplett unter.“ Die nahezu unkommentierten Möwen aber sorgten für Aufmerksamkeit.
Die habe auch Jesus mit seiner radikalen Haltung provoziert. Die Frage sei aber, sagt Joffe, „hat er sich als Taube verhalten – oder als Möwe?“ Und dann sei eben die Frage, ob man seine Märtyrerhaltung zum Vorbild nehmen müsse. Viele Theologen würden das wohl so auslegen. „Aber zu welcher Gesellschaft würden wir werden, wenn das alle ganz genau nähmen?“, fragt Joffe. Würden wir in letzter Konsequenz alle als Selbstmordattentäter enden? Man müsse nicht immer Tauben-zahm sein – aber genauso wenig immer die Krallen ausfahren. „Letztlich steckt in jeder Taube auch eine Möwe – und umgekehrt.“ Und nicht immer sei eine Sache die, als die sie im ersten Moment erscheint. Wie bei Edward Snowden: Der kann beides sein, Freiheitskämpfer oder Verräter.
Die Johannes-Passion wird am Samstag, 5. April, um 19.30 Uhr in der Erlöserkirche, Nansenstraße 5, aufgeführt. Der Eintritt kostet zwischen 10 und 20 Euro
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