Kultur: Das kleine Wunder
Schuberts und Müllers „Winterreise“ erhielt im T-Werk neues Leben
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Leise Zweifel befallen den Potsdamer Zuschauer angesichts der angekündigten Inszenierung der „Winterreise“ von Franz Schubert als Gastspiel des Theaterlabors Bielefeld im T-Werk . Hatte nicht erst der Intendant des Hans-Otto-Theaters zu seinem Einstand den weltberühmten Liederzyklus theatralisiert und dabei ziemlich trivialisiert? Doch nach gut 75 Minuten kann man aufatmen, denn diesmal ist alles anders.
Auch die Regisseure Yoshi Oida und Siegmar Schröder erzählen eine Geschichte und erfinden Bilder zu den 24 Liedern, die Franz Schubert nach Gedichten von Wilhelm Müller komponiert hat. Ein Wagnis und ein Experiment, denn gerade dieses Denkmal des deutschen Lieds und des Weltschmerzes ist schon so oft abgesungen, vorgesungen und nachgesungen worden, dass sich die vielen Interpretationen berühmter Sänger wie dicker Firniss über die Lieder und ihre Texte legen. Doch gerade darauf lässt sich die Bielefelder Theatertruppe ein. Behutsam wird die poetisch-musikalische Substanz freigelegt, hier wird von innen heraus erzählt, ohne etwas Fremdes aufzupfropfen. So geschieht das kleine Wunder, dass Schuberts „Winterreise“ neues Leben bekommt, ohne dabei von ihrem tief melancholischen Gehalt einzubüßen.
Dabei geht es mit geänderter Liedfolge, teilweise bloß rezitierten Texten und fünf verschiedenen Interpreten, darunter nur ein Sänger, nicht gerade konventionell zu. Regisseur Yoshi Oida, der schon als Kind in Japan Schubert-Lieder gesungen hat, und sein Co-Regisseur Siegmar Schröder beginnen mit dem Ende, dem Tod des einsamen Dichter-Sängers und schicken seine zurückgebliebene Frau auf die Suche. Ein knallrotes Liederbuch bildet den Leitfaden und das Leitmotiv der Inszenierung, ein ebenso einfaches wie mehrdeutiges Symbol. Denn das Buch als solches hat die Zeiten überdauert und ist zur Basis des Stücks geworden. Die Frau (Indira Heidemann) setzt mit dem Lied „Gefrorne Tränen“ ein, danach erst folgt das eigentliche Anfangslied „Fremd bin ich eingezogen“. Der betont schlichte, klare Gesang von Achim Hoffmann repräsentiert die musikalische Dimension der Lieder, wobei jegliches vokales Auftrumpfen vermieden wird.
Diese Lieder müssen nicht mit ausgefeilter Vokalartistik gesungen werden. Selbst oder vielleicht gerade, wenn sie so rau und herb klingen wie bei der Schauspielerin Indira Heidemann, verlieren sie nichts von ihrer Präsenz. In der reduzierten, rezitativischen Form kommt die rückhaltlos düstere Stimmung sogar ungleich direkter herüber. Selten wurde die bittere Verzweiflung hinter der Munterkeit im Lied „Die Post“ so deutlich wie in der grotesken Version zwischen Mann (Thomas Behrend) und Frau (Karin Wedeking), wobei letztere immer „mein Herz, mein Herz“ skandiert. Das Herz, es zählt schon lange nicht mehr, denn es lebt nicht mehr. Großartig auch die Idee, den Leierkastenmann in persona erscheinen zu lassen. Michael Grunert gibt der düsteren Todesgestalt menschliche Züge, ein Außenseiter, ein Betrunkener, der – mit dem Flachmann in der Hand – sarkastisch spottet und höhnt. Der sonst gelegentlich im Sog von Gesang und Klavier (Harald Kießlich) untergehende Text erscheint so ganz nackt mit all seiner konkreten Sinnlosigkeit. So direkt muss er auch auf Schubert gewirkt haben, als er sich ans Komponieren machte. Den weichen Mittelteil des Liedes „Auf dem Flusse“ singt allerdings der einsame Wanderer. Wie hier folgen alle Szenen den musikalischen und dichterischen Vorgaben peinlich genau.
So gelingt eine Visualisierung und Dramatisierung der ohnehin überaus bildhaften Texte, ohne dass die künstlerische Substanz verraten oder ausgebeutet wird. Da hüpft sogar einmal eine Krähe und ein kleines buntes Licht tanzt um den Sänger in „Täuschung“. Hinzu erfundene Details, wie die drei Nebensonnen in Form von roten Ewigkeitslichtern wirken sensibel und passend. Eben diese anschaulichen Bilder, Gesichter und Gestalten bewirken, dass die „Winterreise“ vom Podest oft falsch verstandener Kunsthoheit herunterrückt und stattdessen klare, sehr menschliche Züge erhält. Dem Theaterlabor Bielefeld ist eine Humanisierung der „Winterreise“ gelungen, die zeigt, dass dieses Werk bis heute nichts von seiner Intensität verloren hat.
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