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Kultur: Das Lied von Stolz und Selbstekel

„Heeresbericht“ von Edlef Köppen wurde in der Reithalle zum drastischen Dokument des Ersten Weltkriegs

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Am Ende lässt er ihn nicht los: „Es ist ja immer noch Krieg, leck mich am Arsch.“ Das ist der einzige Satz, den der Kriegsfreiwillige Adolf Reisiger noch hat, 1918, nach vier Jahren auf Europas Schlachtfeldern. Kurz zuvor ist er einem Kessel aus amerikanischen Panzern entkommen, doch erleichtert ist er nicht. „Machen Sie mich doch tot“, fleht er im Irrenhaus, in das er nach Kriegsende eingewiesen wird. Der junge Student weiß: „Wir alle sind mitschuldig.“ Adolf Reisiger gab es nicht wirklich, erlebt hat das alles an seiner Stelle ein anderer: der Potsdamer Autor Edlef Köppen, der das Gesehene in seinem Roman „Heeresbericht“ verarbeitete. Am Donnerstag lasen die vier Schauspieler Rita Feldmeier, Eddie Irle, Florian Schmidtke und Wolfgang Vogler in der Reithalle daraus vor. Obwohl vorlesen ein zu schwaches Wort ist für diese Inszenierung, einfach vorlesen lässt sich ein Zeitdokument wie „Heeresbericht“ wohl auch gar nicht. Einfach ertragen wohl auch nicht.

Plastisch wird der Krieg hier nicht nur in den schmerzhaft drastischen Beschreibungen Reisigers, sondern auch durch die propagandistischen Zeitungsartikel, die Briefe und Tagebuchnotizen, Kaiserzitate, Verfügungen der Oberzensurstelle, die sich gegenseitig kommentieren und oft auch widerlegen. Manchmal klingen sie auch bizarr: „Ich lasse mir täglich eine Flasche Sekt heraufbringen und trinke auf dein Wohl“, schreibt der Hauptmann an seine Frau. Bei Köppen finde man „kein Wort gegen den Krieg oder für den Krieg – es ist einfach wiedergegeben, was sich da begeben hat. Und das war schrecklich und groß, noch in seiner sinnlosen Widerwärtigkeit groß“, schrieb Kurt Tucholsky 1931 über den „Heeresbericht“, den die Nazis 1935 verbieten ließen.

Und tatsächlich könnten der Selbstekel und das ganze Grauen des Krieges kommentiert nicht wuchtiger wirken: Nach einer Nacht im Schützengraben, in der Reisiger und seinen Kameraden das Regenwasser bis zum Kinn reichte, torkeln sie ins Licht des Morgens. Einen kurzen Moment lang erinnern sich Reisiger und sein Leutnant an die Studienzeit in München, einen Ausflug nach Salzburg. Dann schwankt der Leutnant, warum schwankt er – ? Reisiger dreht sich zu ihm und sieht das Blut aus dem Hals des Kameraden schießen. Ohne Kopf steht der noch einen Moment da, bevor er zusammensackt.

Reisigers Zweifel am Sinn des Ganzen werden zum Verzweifeln, mit Gedichten schreibt er dagegen an. „Einen Tag lang nicht töten“, heißt es da sehnsuchtsvoll. Trotzdem macht er weiter, wird befördert. „Gott, bin ich stolz“, denkt er und watet weiter, durch giftgasverseuchte Wälder und von Leichen glitschige Schlachtfelder. Er mag nicht mehr – und bleibt doch. Bis zum Schluss. Ariane Lemme

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