Premiere in der Reithalle: Das Monster in uns
Mit „Waisen“ von Dennis Kelly gibt Regisseur Stefan Otteni sein Debüt am Hans Otto Theater
Stand:
Ein Mensch liegt auf dem Gehweg. Blutüberströmt. Bewusstlos. Namenlos. Drei Menschen stehen in einer Wohnung. Hilflos. Ratlos. Nicole, Christian und Marco sind ihre Namen.
Es ist das Unerwartete, das geballte Böse mit seiner gewalttätigen Fratze, das an diesem Abend in dieser Wohnung über Nicole, Christian und Marco hereinbricht. Der Ausnahmezustand, der die Fragilität des Alltäglichen bloßstellt. Der zeigt, dass es keine Gewissheiten, nur die Ungewissheit gibt.
„Waisen“ (Orphans) hat Dennis Kelly sein Theaterstück überschrieben, in dem er vier Menschen diesem Ausnahmezustand aussetzt. Da sind Christian und Nicole, die diesen Abend für sich mit einem Essen genießen wollen. Da ist Marco, Nicoles Bruder, der unerwartet in ihrer Wohnung auftaucht, durcheinander, schockiert, die Hände voller Blut. Und da ist dieser namenlose Mensch, der blutüberströmt auf dem Gehweg liegt. Am morgigen Donnerstag hat „Waisen“ in der Regie von Stefan Otteni Premiere am Hans Otto Theater.
Ganz tief in den Keller reingehen, sagt Stefan Otteni. Er meint damit die menschlichen Abgründe, die sich in „Waisen“ auftun und die Kelly in eine so klare, wie bedrückende Sprache gesetzt hat. Vier Versionen über den blutüberströmten Namenlosen werden hier durchgespielt. Und auch wenn am Ende, im vierten Akt, den vielen Worten endlich Taten gefolgt sind, ist da keine Klarheit, keine Erlösung. Weder für Nicole, Christian und Marco, noch für den blutenden Fremden auf der Straße, noch für den Zuschauer. Die einzige Gewissheit ist und bleibt die Ungewissheit.
Es ist einer dieser sonnensatten Juninachmittage. Stefan Otteni sitzt auf der schmalen Terrasse der Theaterkantine und blickt immer wieder hinüber zum Tiefen See, hinüber zum Park Babelsberg. Nichts scheint in diesem Moment weiter weg zu sein, als dieses Kammerhorrorschauspiel zwischen Nicole, Christian und Marco und deren Verhalten dem blutenden Mann dort draußen gegenüber. Doch so einfach macht es einem Dennis Kelly nicht. Denn gerade diese Situationen sind es, diese harmlosen Allerweltsszenen, in die das Böse plötzlich und gnadenlos einschlägt und das Jetzt zum Albtraum werden lässt. Und in denen sich zeigt, wie es um unsere Moralvorstellungen wirklich bestellt ist. Wie wir uns verhalten, wenn es plötzlich nicht mehr, wie in jedem Gedankenspiel so einfach, richtig und falsch gibt. Wenn wir brutal mit unserer Hilflosigkeit und Unfähigkeit konfrontiert werden. Bei Kellys „Waisen“ kommt noch erschwerend das Motiv Familie hinzu.
„Wie weit würde ich gehen, um meine Familie zu retten“, fragt Stefan Otteni und bringt damit den Grundkonflikt von Nicole, Christian und Marco so klar und auch plakativ auf den Punkt. In zahlreichen Hollywood-Filmen wird diese Frage klar und deutlich beantwortet, wenn beispielsweise Bruce Willis mal wieder zerzaust und mit blutbeflecktem Unterhemd einer Trümmerwüste entsteigt, unzählige Spießgesellen gemeuchelt, dafür aber Frau und Kind gerettet hat. Gut und böse sind so klar definiert, dass es nur eine Antwort geben kann: Alles ist erlaubt!
Für Nicole, Christian und Marco gibt es keine solche Klarheit. Denn was in den ersten Sätzen von „Waisen“ schon deutlich wird, ist die Unterschiedlichkeit der Wahrnehmungen. Und dass Wahrheit immer nur eine Illusion ist. Otteni, der 1966 bei Karlsruhe geboren wurde und mit „Waisen“ sein Regiedebüt in Potsdam gibt, sagt, dass ihn ein solcher Prozess fasziniert: Der Krieg, der da draußen auf der Straße tobt, bricht in das so gehütete Scheinidyll Familie und entwickelt sich zu einem Albtraum, den niemand mehr beherrscht. Und durch die hauchdünne Oberfläche unserer Normalität bricht all das Unausgesprochene, das Verborgene, Verheimlichte. Wir schauen hilflos zu, wie Nicole, Christian und Marco immer näher an den Abgrund geraten und stürzen.
Für Otteni ist dieses Stück ein großes Plädoyer gegen die Vereinfachung. Denn es ist die Vereinfachung und das Gerücht, die Nicole, Christian und Marco bemühen, um sich aus der Verantwortung zu ziehen und versuchen, das Unaussprechliche unausgesprochen zu lassen. „Aber sie sind nicht verrotteter als wir“, sagt Otteni. Wenn am morgigen Donnerstag Franziska Melzer in der Rolle der Nicole, Alexander Finkenwirth als Marco und Raphael Rubino als Christian in der Reithalle auf die Bühne treten, dann soll da dieses Gefühl beim Zuschauer entstehen: Das könnte ich sein. Das könnte meine Familie sein. Keine Barriere, die einen Rückzug ermöglicht oder eine bequeme Position schafft, aus der sich so wunderbar moralisieren lässt. Otteni hat als Gast der deutschen Uraufführung in Basel und später der Inszenierung in Zürich die Zuschauer danach in Grüppchen stehen sehen, wie sie sich über das Gesehene unterhalten haben. Der Strudel, dieser unnachgiebige Sog, der Nicole, Christian und Marco ergriffen hat und unerbittlich in die eigenen Abgründe zieht, er soll auch den Zuschauer in Potsdam packen.
„Ich bitte dich um Hilfe. Ich bitte dich um eine Entscheidung“, sagt Nicole zu Christian am Ende des dritten Akts. Da hat dieser Strudel längst auch schon das letzte Hoffnungsglimmen verschluckt. Doch in dieser Dunkelheit zeigen sich die menschlichen Abgründe am deutlichsten. Und irgendwo da draußen liegt ein gefesselter Mensch. Blutüberströmt und namenlos.
Premiere von „Waisen“ am morgigen Donnerstag, 19.30 Uhr, in der Reithalle, Schiffbauergasse
Dirk Becker
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