Kultur: Das Phantom von Draußendrinnen Judith Hermann stellte in Potsdam ihren Debütroman „Aller Liebe Anfang“ vor
Judith Hermann wollte kein Buch vordergründig über Stalking schreiben. Doch genau das hat sie getan.
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Judith Hermann wollte kein Buch vordergründig über Stalking schreiben. Doch genau das hat sie getan. Nach ihren allseits viel gelobten Erzählungen „Sommerhaus später“ und „Nichts als Gespenster“ folgt nun ihr erster Roman mit dem Titel „Aller Liebe Anfang“ (S. Fischer Verlag, 19,99 Euro), den sie auf der vorletzten Station ihrer aktuellen Lesereise am Dienstag im Waschhaus vorgestellt hat. Das Buch wurde von der Kritik bislang nicht sehr wohlwollend behandelt. Kern des Unbehagens war wohl die Frage, ob Hermann nicht besser bei den Erzählungen aufgehoben wäre. Ob sie Roman überhaupt kann.
Das Buch behandelt grob die Beziehung zwischen Stella und Jason, die zusammen ein Kind haben und in einer Vorstadtsiedlung wohnen. Er baut Häuser. Sie ist Altenpflegerin. Das Verhältnis der beiden ist in die Jahre gekommen. Die Kommunikation läuft nicht gut. Es ist eher ein Abarbeiten der Zeit. Dann tritt plötzlich ein Fremder in ihr Leben und, man ahnt es, will es zerstören. Nach einigem Vorgeplänkel nimmt die Geschichte Fahrt auf. Das Unheimliche realisiert sich wie entlang eines festgelegten Planes.
Idealerweise schreibt sich ein Roman von hinten nach vorn. Auch „Aller Liebe Anfang“ ist so entstanden. Die zuerst gewonnene Gewaltszene steht im fertigen Buch am Ende des Textes und beschreibt den Eklat und die Auflösung der Stalking-Geschichte. Eigentlich aber, so erklärt die vom Erfolg verwöhnte Autorin an diesem Abend, wollte sie etwas ganz anderes erzählen, nämlich „die verschiedenen Arten der Liebe“. Abseits von Stella und Jason war ihr daran gelegen, den mikroskopischen Blick auf diverse Verhältnisse zu werfen. Auf das zwischen den Geschlechtern, jenes zwischen Mutter und Kleinkind, zwischen jungen Liebenden, alten Liebenden, den Generationen, Kranken und Pflegenden, Subjekt und Ort, dem vermeintlichen Opfer und seinem Stalker.
Vieles in dem Roman scheint zusammengeklaubt. Die Siedlung, die Stadt, die Straßen, der Kindergarten – alles ohne Namen. Dennoch hat man als Berlinkundiger permanent das Gefühl, bei einer Baugemeinschaft in Karlshorst oder Pankow zu sein oder in einer Fröbel-Tagesstätte im Prenzlauer Berg. Warum, fragt Buchhändler und Moderator Carsten Wist, das Bekannte verrätseln? Warum diese Realität zurückschrauben in eine reduzierte, beschädigte Fassung?
Inzwischen hatte sie Zeit, auf die Kritik zu reagieren, sich vorzubereiten. Ihre Absicht war es, ein klaustrophobisches Gefühl zu erzeugen. Die ganze Geschichte in „ein Kammerspiel“ zu stecken. Der Text schreibe sich in gewisser Weise selbst, gebe die Länge vor. Begonnen mit dem Schreiben hat Judith Hermann im Grunde während eines halbjährigen Aufenthalts in New York. Sie verfasste und erhielt Briefe. Das war noch vor dem E-Mail-Zeitalter. In den 90ern. Dann besuchte sie die Journalistenschule am Alexanderplatz. Sie wollte Reiseschriftstellerin werden. Man riet ihr ab, sie protokolliere Kitsch, vergebene Liebesmüh. So landete sie in der Literatur. Nicht im Journalismus.
Der klaustrophobische Sound der Sprache entfaltet sich von Beginn an. Stakkato. Sätze ohne Verben. Sätze wie Skizzen. Der Sound des Faktischen, der unaufhörlich Gegenwart schafft. Die Lesestimme hechelt kontrolliert, setzt Szene an Szene. Mag sein, dass an diesem Roman einiges nicht stimmt. Kann man sich Stella als Krankenpflegerin vorstellen? Was ist Jason, Maurer oder Architekt? Und Mister Pfister, eine Comicfigur, wie die Autorin kolportiert: Gehört eine solche Überzeichnung in diesen Roman? Schwierig.
Gleichwohl, und das wird an diesem durchaus auch heiteren Abend sichtbar, ist Judith Hermanns Fähigkeit zur genauen Diagnose bewundernswert. Nicht nur in der Beobachtung ihrer Generation, der Mittdreißiger bis Vierzigjährigen, die dort angekommen ist, wo sie hinwollte: Haus, Kind und Kegel – der fade Geruch des Verwelkens. Sondern auch in der Psychologie des Stalkers, bei dem man nicht genau weiß: Leidet er an einer Cannabis-Psychose? Oder was ist sein Trauma? Was ist diesem „Wiedergänger“ und Stellvertreter der Borderliner-Gesellschaft mit der „femininen Handschrift“ geschehen, dass er offenkundig seine Identität verloren hat. Nicht zu vergessen Stella, die sich im Verlangen nach Ausbruch und Liebe so weit herablässt, ihrem Peiniger Nähe zu schenken. Der Stalker kommt nicht nur von draußen, er kommt auch aus ihrem Inneren.
Carsten Wist jedenfalls schätzt die Berliner Autorin über alle Maßen. Bevor es ans Büchersignieren geht, wünscht er sich, sollte es irgendwann so weit sein, dass er als Buchhändler in den Ruhestand tritt, würde er gern die letzte Leseveranstaltung gemeinsam mit ihr realisieren. Judith Hermann bedankt sich. Ein guter Abend geht zu Ende. Ralph Findeisen
Ralph Findeisen
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