Von Dirk Becker: Das Tier Mensch
Filmgespräch im Thalia Filmtheater mit Joel Basman über das Jugendknastkammerspiel „Picco“
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Warum diesen Film empfehlen? Dieses Jugendknastkammerspiel, das mit schizophrener Gelassenheit in eine Katastrophe, eine Gewaltorgie mündet, an deren Ende ein junger Mann, mehr Junge als Mann, mit einem Bettlakenstrick erhängt über dem Zellenklo baumelt? Ein Film, der zum Ende hin gut 30 Minuten lang diese Todesnacht zeigt, den Zuschauer mit in die Zelle sperrt und ihn der Gewalt aussetzt, die sich in dieser Nacht mit einer Konsequenz Bahn bricht, die nicht einfach nur schockiert?
Ja, allein schon wegen dieses Ausgesetztseins, dieser Hilflosigkeit, die Regisseur Philip Koch in „Picco“ so brutal schonungslos ins Gesicht der Zuschauer schleudert, ist dieser Film zu empfehlen. Egal wie fragwürdig und niederschmetternd mancher das Gezeigte auch finden mag. Distanz lässt dieser Film kaum zu, wie sich am Freitag im Thalia Filmtheater zeigte, als nach der Aufführung von „Picco“ Schauspieler Joel Basman sich Zeit für ein kurzes, aber sehr bewegendes und intensives Publikumsgespräch nahm.
Kevin ist „Picco“. Der Neuzugang in irgendeinem Jugendknast in Deutschland. Als Picco ist er der letzte Dreck, steht auf einer der untersten Stufen der Knasthierarchie und kann froh sein, wenn ihn die anderen Häftlinge einfach nur ignorieren. Tun sie es nicht, spielen sie ihre Spiele mit ihm, um auszutesten, wie viel sich dieser Picco gefallen lässt, ob er nur hier Opfer ist und die ganze Zeit Fußabtreter für die anderen sein wird, oder ob er sich zur Wehr zu setzen weiß.
Constantin von Jascheroff spielt diesen „Picco“ Kevin mit einer anfänglichen Unsicherheit, durch die spürbar wird, dass er den Knastalltag mit seinen Abstumpfungen und der latenten Gewalt von sich fernhalten will. Einer, der noch zu sehr im Draußen statt im Drinnen, im Knast ist. Doch mit dem Bewusstwerden der Ausweglosigkeit, die jeder weitere Tag in der Enge der Gefängnismauern verstärkt, wird aus der Hilflosigkeit in ihm erst Verzweiflung, dann Wut und Hass.
Eine Wut und ein Hass, die immer kurz vor dem Überkochen sind, und die auch in Marc (Frederick Lau) und Andy (Martin Kiefer) wie in anderen Häftlingen ständig brodeln und sie wie wilde Tiere vor dem Sprung durch die runtergekommenen Gefängnisflure schleichen lassen. Zusammen mit Marc, Andy und Tommy muss sich Kevin eine Viermannzelle teilen. Ein dunkles, trostloses Loch, in dem das einzig Berechenbare die Unberechenbarkeit seiner Insassen ist.
Warum sie ins Jugendgefängnis mussten oder wie alt sie sind, erfährt der Zuschauer nicht. Kevin und Tommy mögen vielleicht 14, 15, 16 oder 17 sein, Andy und Marc wirken in ihrer Abgeklärtheit und Brutalität älter als ihre beiden Mithäftlinge. Sie geben den Ton an in der Zelle.
Als sich herausstellt, dass der Häftling Jury nicht wie behauptet wegen Körperverletzung einsitzt, sondern weil er wiederholt auf dem Schwulenstrich festgenommen wurde, ist ein Opfer gefunden, das noch tiefer steht als der „Picco“ Kevin. Ausgerechnet Jury hat Kevin in den ersten Tagen nicht abgewiesen, als er um eine Zigarette bat, hat ihn eingeführt in den Knastalltag, ihm die Fragen beantwortet, die der Neue stellte, um klarzukommen, ohne anzuecken. Jetzt, wo Jury noch tiefer steht als Kevin, wendet dieser sich von ihm ab. Der Käfig Knast duldet keinen Moment der Schwäche. Wer sich mit einem Opfer abgibt, dazu noch mit einem „Schwulen“, der wird ganz schnell selbst zum Opfer. Mit diesem Abwenden beginnt Kevin das Draußen abzustreifen und das Drinnen, den Knast, immer mehr aufzunehmen. Ein Prozess voller Zweifel, Selbsthass und fatalen Folgen.
Was „Picco“ neben seiner Schonungslosigkeit noch so empfehlenswert macht, sind die schauspielerischen Leistungen von Constantin von Jascheroff, Frederick Lau, Martin Kiefer und Joel Basman. Ihr intensives Spiel löst jegliche Distanz auf, lässt, neben der Tatsache, dass die Mordnacht in „Picco“ auf einer wahren Begebenheit aus dem Jahr 2006 in der JVA Siegburg beruht, nicht den mentalen Fluchtweg offen: Es ist ja nur ein Film!
Als Joel Basman am Freitag in den Kinosaal trat, applaudierte niemand der gut 30 Zuschauer. Es war wie ein stilles Einverständnis zwischen Schauspieler und Publikum, dass jetzt kaum etwas unpassender wäre als Applaus nach diesem Film. Die Fragen, die an Basman gerichtet wurden und in denen oft etwas sorgenvoll Erschüttertes mitschwang, kreisten vor allem um das Wohl der vier Schauspieler und wie sie die Dreharbeiten zu „Picco“ verkraftet hatten. Es wurde gar gefragt, ob sie bei den fünfwöchigen Aufnahmen in der ehemaligen Justizvollzugsanstalt Landshut psychologische Betreuung bekommen hätten. So überzeugend war die Darstellung der Vier, dass fast jeder im Kinosaal die professionelle Grenze, diese Distanz zwischen Rolle und Schauspieler nicht mehr denken wollte. Und Joel Basman schienen diese Fragen nicht zu überraschen.
Niemand fragte, was Regisseur Philip Koch mit „Picco“ beabsichtigt habe, was er kritisieren wolle. Zu deutlich wird in diesem Film, was schiefläuft im Raubtierkäfig Knast. Und Philip Koch vermeidet es tunlichst, irgendwelche Lösungsvorschläge oder gar Antworten anzubieten. Er nimmt den Zuschauer mit in den Jugendknast und lässt ihn die Monotonie und den Irrsinn, die latente Gewalt und die zermürbende Einsamkeit und Hilflosigkeit so nah spüren, dass es Momente gibt, in denen man glaubt, dieses Knastloch fast schon riechen zu können. Koch bewertet nicht, er wirft den Zuschauer in den Knastalltag wie den „Picco“ Kevin. Und nun friss oder stirb!
Wie Ratten in einem Käfig beschrieb einer der Besucher am Freitag seinen Eindruck von den Häftlingen in „Picco“. Doch mit diesem Vergleich tut er den Ratten Unrecht. Nie würde das Tier Ratte eine solche Phantasie entwickeln wie das Tier Mensch, wenn es darum geht, seine Artgenossen zu quälen. Koch lässt uns so in eine Hölle blicken, von deren Existenz wir längst wussten. Doch bisher glaubten wir, mit diesem Wissen umgehen zu können. Wer „Picco“ gesehen hat, muss erkennen, wie trügerisch dieser Glauben doch war.
„Picco“ ist noch in dieser Woche im Thalia Filmtheater in der Rudolf-Breitscheid-Straße 50 zu sehen. Weitere Informationen unter www.thalia-potsdam.de
Dirk Becker
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