Kultur: „Das Unvorhersehbare ist interessanter als der Refrain“
HOT-Regisseur Alexander Nerlich spielt am Samstag um 21.30 Uhr mit seiner Band A Boy Named River
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Herr Nerlich, bisher kennt man Sie am Hans Otto Theater als Regisseur von „Geschichten aus dem Wiener Wald“, „Hamlet“ oder „Urfaust“. Am Samstag spielen Sie jedoch im Nachtboulevard als Gitarrist mit Ihrer Band „A Boy Named River“ in der Reithalle – statt klassisches Theater nun also konstruierter Krach?
Es ist Krach dabei, es ist unsauberer, spontaner, wirrer und manchmal auch monotoner als das, was wir vorher gemacht haben. Irgendwie auch gerader, mutiger. Das sind raue Songs, die hoffentlich ganz direkt Emotionen transportieren, ohne Rockerposen, die auf die Performance der Sprache ausgerichtet sind. Jede einzelne Sekunde ist ernst gemeint, auch wenn wir nicht immer so genau wissen, um was es in den Texten ganz genau geht. „I am surrounded by burning zombies, Fitch and Abercrombies.“ So viel ist klar.
Euphorisch ist die Musik auf jeden Fall. Aber auch sehr düster.
Das sind apokalyptische Szenen, die in den Lyrics stecken, wirre, laute Bilder, die einen durchschütteln und nicht mehr loslassen. Da geht’s um Steuerlosigkeit, um Phantasien und Angstbilder, gegen die man anschreit. Das hat etwas Getriebenes.
Im Zentrum steht ja diese Kunstfigur River als lyrisches Ich.
Die wollen wir gar nicht so ausformulieren. Jeder von uns hat wohl seine eigene Vorstellung davon, was oder wer dieser River ist. Einig sind wir uns in einem Punkt: River ist jemand, der mit Restless-Legs-Syndrom durch die Stadt rennt, Leute zutextet und dann parcoursmäßig um die nächste Ecke verschwindet. Eine Figur, die Angst hat, aber keine Angst, die Stimme zu erheben.
Alle vier Bandmitglieder sind an verschiedenen Theatern beschäftigt, Ihr Bruder Daniel Nerlich ist Schauspieler in Hannover, Schlagzeuger Sandro Tajouri ebenfalls, und Bassist Tom Schneider arbeitet als Regisseur in Freiburg. Viel Zeit für Proben bleibt da nicht, oder?
So ist es. Wir machen einfach sehr gern Musik zusammen, und wenn wir uns mal sehen, sind wir neugierig auf die Einfälle der anderen, voll mit Ideen. Wir nutzen die Zeit. Wir können uns in einen Rausch spielen, aber wir nehmen auch kein Blatt vor den Mund und kritisieren uns viel. Was die Arbeitsmentalität angeht, sind wir uns einig, wir proben gerne.
Erleichtert denn die Arbeit am Theater den kreativen Prozess?
Klar, total. Das ist dieser Workflow, wir plagen uns ständig mit Skizzen rum, und wenn wir uns treffen, dann spielen wir stundenlang, nächtelang. Gerade die Regisseure, Tom und ich, lernen so, auch mal die Klappe zu halten.
Da lassen sich die Regisseure auch mal etwas von den Schauspielern diktieren.
Genau. Das ist ja das Großartige: Mein Bruder sagt mir schon mal klar und deutlich, was ich spielen soll. Dennoch glaube ich, dass da nicht viel Inszenierung ist bei uns. Die Songstrukturen sind eher sperrig, ein Spiel mit Wiederholungen und plötzlichen Brüchen. Das Unvorhersehbare ist interessanter als der Refrain. Das ist zwar ein Widerspruch, wenn man einen Tonträger aufnimmt, aber man soll den Songs schon anmerken, dass wir uns in einen Rausch gespielt haben, dass sie so entstanden sind. Da geht es um die Wucht des Moments, die den Song wie eine Billardkugel bis zum Loch trägt.
Und dann wird gejubelt.
Oder man hat’s verkackt. Aber darum geht es: Loslaufen in eine düstere Welt und gucken, ob man irgendwo ankommt, wo Lichter sind. Wir sind aufgeregt, wir haben Bock, aber wir übernehmen uns auch nicht, denke ich. Nach diesem Gefühl haben wir lange gesucht.
Das Gespräch führte Oliver Dietrich
Alexander Nerlich wurde 1979 in Hamburg geboren. Er studierte Regie an der Bayerischen Theaterakademie. Seit 2012 inszeniert er am Hans Otto Theater, aktuell Ibsen:„Peer Gynt“
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