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Kultur: „Das Urerlebnis von Geborgenheit“

Professor Ulrich Mahlert über die Magie der Musik – und warum man nicht zu viel hören lernen sollte

Stand:

Herr Mahlert, warum berührt uns Musikhören, warum kann es uns so glücklich machen?

Das Hören von Musik versetzt uns in einen Klangraum. In diesem Raum umgibt uns Musik von allen Seiten – auch dann, wenn wir, wie im Konzert, die Musizierenden vor uns haben. Im Hören von Musik werden wir von ihr umhüllt. Das ist etwas Ähnliches wie das Umfangensein des Ungeborenen im Mutterleib – das Urerlebnis von Geborgenheit, vielleicht eine der stärksten Motive unseres lebenslangen Glücksstrebens. Der Gehörsinn ist ja auch ein sehr früh ausgeprägter Sinn. Schon im Mutterleib hören wir die Stimme der Mutter, ihre Körpergeräusche... In all dem, was wir dort hören, erleben wir die emotionalen Befindlichkeiten der Mutter. Schon ganz früh also ist das Hören mit Emotionen verknüpft. Natürlich ist Musik als Kunstform etwas anderes als das, was wir pränatal hören. Und doch sind die Grundvorgänge vergleichbar: Indem eine Musik, die wir lieben, uns umfängt, ermöglicht sie uns ein tiefes Gefühl von Geborgenheit, von Aufgehobensein in dem von ihr erzeugten Klangraum.

Musik wirkt direkt auf unsere Stimmung – wie funktioniert das eigentlich genau?

Es ist wohl ein Wechselprozess zwischen dem, was Musik in ihrem Ausdruckspotential, ihren Charakteren, ihren Verlaufsformen ausprägt und dem, was wir von unseren eigenen Emotionen in ihr wiederfinden oder auch in sie hineinprojizieren. Menschen suchen sich meist die Musik aus, die ihre emotionalen Bedürfnisse erfüllt. Das kann vieles sein: sich lebendig fühlen im Erleben verschiedenster Emotionen, träumen, die eigene Größe spüren, lustvoll die eigene Melancholie empfinden, sich erinnern an Früheres... Im Hören von Musik arbeiten wir Gefühle durch. Musikhören kann das innere Kuddelmuddel klären und psychisch stabilisieren. Viele Vorgänge in Musik haben etwas Körperliches: Hier wie dort gibt es Puls, Atem, Töne, Spannungen und Entspannungen. Musik kann auch kognitiv erlebt werden. Zunächst aber wird sie vegetativ wahrgenommen. Wir fühlen uns „bewegt“ von ihr, physisch wie psychisch, wir wippen mit, wir wiegen uns hin und her, wir atmen mit ihr, wir fühlen uns schwerer oder leichter – je nachdem, wie die gehörte Musik beschaffen ist. Wir erleben sie mal mehr als Stimulanz, mal mehr als Sedativum, also beruhigend.

Scheint es deswegen auch viel leichter, Musik emotional zu erleben als etwa Malerei, Literatur oder Theater?

Bei Werken der bildenden Kunst haben wir ein Gegenüber: Wir stehen vor einem Bild, einer Plastik. Zwischen mir und dem Objekt liegt eine Distanz. Das Auge ist ein distanzierendes Organ. Daran liegt es vielleicht, dass wir von Werken der Bildenden Kunst emotional nicht so überwältigt werden wie von Musik. Wir verschmelzen mit dem Gesehenen nicht so wie mit dem Gehörten. Beim Hören fällt die Distanz weg. Die Töne dringen in mich ein, sie rumoren in mir. Ich kann dann oft gar nicht unterscheiden, was Musik und was Ich ist. Ich selbst werde gewissermaßen zur Musik. Hinzu kommt: Musik ist präverbal. Aus den Neurowissenschaften wissen wir, dass Musik emotional in subkortikalen Schichten des Gehirns verarbeitet wird. Die von Musik hervorgerufenen Emotionen liegen tiefer als die durch die Sprache vermittelten. Musik ist begriffslos und doch unendlich ausdrucksvoll. Sie lässt sich nicht festlegen in ihrer Bedeutung. Was sie auslöst, ist begrifflich nicht wirklich erfassbar. Allenfalls können wir es umschreiben. Die Wirkungen von Musik sind viel mächtiger als das, was sich durch Worte benennen lässt.

Wie hat sich unser Hören in den vergangenen 100 Jahren verändert?

Schwer zu sagen und kaum zu generalisieren. Was es vor 100 Jahren nicht so gab wie heute, ist die musikalische Umweltverschmutzung. Heute erklingt überall Musik. Was schön ist, wird zur Plage. Nichts kann so nerven wie Musik zur Entspannung. Wir müssen uns ständig vor Musik schützen, wir müssen weghören üben, uns immunisieren vor dem Musikterror in öffentlichen Räumen. Und natürlich kann man sich fragen, ob dadurch die Fähigkeit, sich intensiv einer gehörten Musik hinzugeben, beeinträchtigt wird.

Vor allem durch die Digitalisierung ist Musik schneller verfügbar. Wir hören mehr, aber hören wir auch besser?

Ich habe nicht unbedingt den Eindruck, dass wir mehr hören. Das gilt sogar für Musikstudierende. Immer wieder bin ich überrascht, wie wenig Musik viele Studierende kennen, und zwar auch Musik des traditionellen Repertoires. Ein Klavierstudent, der die Hälfte der 32 Beethoven-Sonaten kennt – nach meiner Erfahrung eine seltene Ausnahme. Ob wir besser hören als früher? Auch da bin ich skeptisch. Aber natürlich wäre erstmal die Frage zu klären, was „besser“ ist.

Gerade bei klassischen Konzerten kann man den Eindruck gewinnen, wir hören heute eher schlechter: Es gibt zum Beispiel in Potsdam mit dem Orphon ein Gerät, mit dem Probenbesuchern über Kopfhörer erklärt wird, worauf man achten kann. Fehlt uns das Wissen um die klassische Musik?

Etwas über eine bestimmte Musik zu wissen, ist schön und kann das Hören bereichern. Aber ich glaube, dass Wissensvermittlung nicht der beste Weg ist, um jemandem Musik nahezubringen. Ich verliebe mich ja auch nicht dadurch in jemanden, dass ich etwas über ihn erzählt bekomme.

Wie sollte dann „geführtes Hören“ Ihrer Meinung nach sein?

Gute Musikvermittlung ist sparsam. Sie gibt Anregungen, Hinweise, aber sie gängelt nicht das Hören. Gegängeltes Hören erstickt die Musik.

Das Gespräch führten Grit Weirauch und Ariane Lemme

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