
© Judith Schlosser
ZUR PERSON: „Das war damals gängige Praxis“
Sergio Azzolini über seine Experimentierlust im Umgang mit Joseph Haydn
Stand:
Herr Azzolini, bei Ihrem Auftritt mit der Kammerakademie Potsdam spielen Sie ein Konzert für Fagott und Orchester, das Haydn ursprünglich für Orgel geschrieben hat. Ein kleiner Etikettenschwindel?
Nein, ich liebe es einfach zu experimentieren. Das gehört für mich zum Selbstverständnis als Musiker einfach dazu. Und dann bekam ich vor längerer Zeit Kopien eines handschriftlichen Werkkatalogs von Joseph Haydn in die Hände und war erstaunt, denn seit langer Zeit spiele ich Fagott, aber weiß erst aus diesem Katalog, dass Haydn auch für mein Instrument ein Konzert geschrieben hat.
Und warum spielen Sie nicht dieses Konzert?
Weil die Partitur verschollen ist. Ich habe dann Nachforschungen angestellt, weil ich wissen wollte, in welcher Tonart es geschrieben wurde und mit welcher Besetzung. Und mit der Hilfe eines italienischen Musikwissenschaftlers, der sich lange mit Haydns verschollenem Konzert für Kontrabass auseinandergesetzt hat und der bei seinen Nachforschungen auf Informationen über das Fagottkonzert gestoßen ist, habe ich dann erfahren, dass es in C-Dur geschrieben war.
Wie das Orgelkonzert, das Sie am morgigen Sonntag in der Friedenskirche spielen.
Genau. Was die Besetzung angeht, da habe ich dann die Rechnungen für die Bezahlung der Musiker herangezogen.
Eine in der Musikwissenschaft gängige Methode, um herauszufinden, mit wie vielen Musikern und Instrumenten zu Lebzeiten der Komponisten ihre Werke aufgeführt wurden.
Und mir liefert das die Kenntnisse für die Besetzung des Konzerts mit der Kammerakademie.
Abgesehen davon, dass beide Konzert mit C-Dur die gleiche Tonart haben, warum haben Sie ausgerechnet ein Orgelkonzert für Ihr Fagott umgeschrieben?
In der autografen Partitur ist dieses Konzert sowohl für Orgel als auch für Cembalo und Klavier vorgesehen, also für drei alternative Instrumente. Das Interessante daran ist, dass eine Orgel die Töne sehr lange hält, das Cembalo dagegen nicht. In der Partitur ist dieses Konzert „per l’organo“ gesetzt. Aber der langsame Satz ist stark verziert. Und ich gehe davon aus, dass ein Interpret auf der Orgel diese Verzierungen weggelassen und die langen Töne zelebriert hat.
Diese Verzierungen waren also für das Cembalo gedacht?
Ja, diese ganzen Triller und Koloraturen. Und wenn man diese weglässt, entsteht eine ganz eigene Gesanglichkeit auch für das Fagott. Für mich ist dieser langsame Satz die Sternstunde dieses Konzerts. In den schnellen Sätzen merke ich dann ab und an schon, dass ich hier ein Experiment wage.
Mit Verlaub, aber warum diese ganze Mühe?
Auch um zu zeigen, dass Haydn in seinen Kompositionen sehr experimentierfreudig war. Nehmen wir sein Cellokonzert in D-Dur, geschrieben für den Virtuosen Anton Kraft, das fast ausschließlich in den hohen Lagen geschrieben ist. Hätten wir nicht den Autografen, könnten wir auch denken, dieses Konzert sei für Bratsche oder gar Violine geschrieben. Und ich verweise damit auch auf eine damals gängige Praxis, ein und dasselbe Konzert für mehrere Instrumente zu bearbeiten. Johann Sebastian Bach hat Geigenkonzerte komponiert und diese dann für Cembalo bearbeitet. Sein Sohn Carl Philipp Emanuel Bach komponierte Cellokonzerte, dann davon eine etwas leichtere Version für Flöte für seinen Dienstherrn Friedrich II, und dann eine Version für das Cembalo für den eigenen Gebrauch. Das ist nicht nur interessant, sondern es zeigt, dass diese Leute sehr flexibel waren. Und dann muss ich noch Johann Wilhelm Hertel nennen.
Neben Friedemann und Carl Philipp Emanuel Bach einer der wichtigsten Vertreter des empfindsamen Stils.
Ja, und Johann Wilhelm Hertel hat sechs Konzerte für Fagott, einige leicht, einige schwer, komponiert. Davon sind leider nur drei erhalten. Aber von allen sechs Fagottkonzerten existieren Fassungen für das Cembalo.
Womit sich der Kreis zu Ihrer Bearbeitung von Joseph Haydns Orgelkonzert für das Fagott schließt.
Ich habe diese Fassungen für das Cembalo genau studiert: viele Verzierungen, die Durchführung ist länger und es gibt mehr Raum für Improvisationen. Die drei erhaltenen Fagottkonzerte sind im Vergleich dazu schlichter. Mit diesem Wissen habe ich mich dann an die Bearbeitung von Haydns Orgelkonzert für das Fagott gemacht.
Somit bekommt der Titel „Konzertante Entdeckungen“, mit dem Ihr Konzert mit der Kammerakademie überschrieben ist, eine ganz neue Bedeutung. Für die meisten wird sich diese angekündigte Entdeckung wohl auf Michael Haydn, den weniger bekannten Bruder von Joseph Haydn, beziehen.
Meiner Meinung nach heute leider zu Unrecht so wenig bekannt. Zu Lebzeiten galt Michael Haydn, ein guter Freund Mozarts, als sehr begabt. Und bei intensiver Auseinandersetzung mit den Werken von Michael Haydn lässt sich feststellen, dass bei ihm und seinen Komponistenkollegen ein sehr flexibles Verständnis und breites Denken im Umgang mit musikalischen Themen herrschte. Mit der Kammerakademie spiele ich eine Sinfonie, in die ein Concertino für Fagott eingefügt ist. Und diese Sinfonie ist im Grunde das Gerüst einer Serenade. Diese Serenade ist leider verschollen. Aber umso mehr ich mich damit beschäftigt und geforscht habe, umso mehr Verweise auf Ergänzungen und andere Stimmen habe ich gefunden. Und manche dieser Sätze finden sich in den Werken anderer Komponisten. Was auch nicht ungewöhnlich ist. So ist die Sinfonie Nr. 37 in G-Dur, die lange Wolfgang Amadeus Mozart zugeschrieben wurde, von Michael Haydn komponiert. Lediglich die Einleitung stammt von Mozart. Oder die sechs Duos für Violine und Bratsche von Michael Haydn, von denen die letzten zwei Mozart komponiert hat, weil Haydn krank war. Es gab damals einen regen Austausch und eine große Experimentierfreude und ich hoffe, dass wir das mit unseren „Konzertanten Entdeckungen“ darstellen können.
In Sachen Experimentierfreude ist aber vor allem Joseph Haydn zu nennen.
Oh ja, und ich liebe seine Musik. Wir spielen aus seinem Tageszeiten-Zyklus die Sinfonie Nr. 8 in G-Dur mit dem Namen „Le Soir“, „der Abend“. Das sind die ersten Sinfonien, die Haydn für seinen Dienstherrn, den Fürsten Esterházy, komponiert hat. Das ist eine unglaubliche Musik, die spätbarocke, früh- und spätklassische Elemente zitiert, Rezitative und andere opernhafte Elemente. Und das alles immer mit feinstem Humor.
Sie haben vor über drei Jahren das letzte Mal mit den Musikern der Kammerakademie zusammengespielt. Wie haben Sie das Orchester, dessen künstlerischer Leiter Sie von 2001 bis 2006 waren, in der ersten Probe am Donnerstag erlebt?
Einfach perfekt. Bei den Musikern gibt es einfach diese Experimentierfreude. Hinzu kommt, dass dieses Orchester sich mit den Jahren und vor allem mit dem derzeitigen Chefdirigenten Antonello Manacorda entwickelt und gefestigt hat. Ich habe sofort gehört, dass die Musiker da viel Arbeit investiert haben. Aber manchmal möchten sie auch ohne Dirigent spielen.
Und dann ruft die Kammerakademie Sie an?
Ja, und dann gehe ich in die erste Probe, wir spielen und da ist einfach die Freude des Wiedersehens zu hören. Weil ich nicht dirigiere, sondern selbst auf dem Fagott agiere, lade ich dazu ein, einfach loszuspielen. Das darf dann auch ruhig ein wenig kantig sein, erst recht bei einem solchen experimentierfreudigen Programm. Die Musiker haben keine Lust auf dieses polierte Image, dass alles so perfekt klingen muss. Bei der ersten Probe habe ich gesagt, dass ich jetzt einfach anfange und nicht mit „Eins, zwei, drei“ einzähle. Ich atme und ich spiele. Und das ist das Wunderbare: Wir spielen im gleichen Tempo, weil einfach das Wissen und das Gespür da sind. Und wenn ich mit der Kammerakademie mal nicht gleich beim ersten Ton genau zusammen bin, spätestens beim zweiten Ton sind wir das und die Musik fließt.
Das Gespräch führte Dirk Becker.
„Konzertante Entdeckungen“ am morgigen Sonntag, 18 Uhr, in der Friedenskirche Sanssouci. Der Eintritt kostet zwischen 12 und 26 Euro
Sergio Azzolini wurde 1967 in Bozen geboren, zwischen 1978 und 1985 studierte er Fagott in seiner Heimatstadt am Conservatorio Claudio Monteverdi und anschließend bis 1989 an der Hochschule für Musik in Hannover.
Alte Musik
Seit einigen Jahren setzt sich Sergio Azzolini intensiv mit Alter Musik auf historischem Instrumentarium auseinander.
Potsdam
Sergio Azzolini war von 2001 bis 2006 Künstlerischer Leiter der Kammerakademie Potsdam. Er leitete bei den Musikfestspielen Potsdam Sanssouci 2004, 2006 und 2010 die Opern „La fida ninfa“ von Antonio Vivaldi und „Le nozze die Dorina“ von Baldassare Galuppi und „Montezuma“ von Carl Heinrich Graun.
Preise
Er gewann renommierte Wettbewerbe, darunter den Carl-Maria-von-Weber-Wettbewerb, den Wettbewerb des „Prager Frühlings“ und den ARD-Wettbewerb. Dort war er auch mit dem Ma’alot Quintett erfolgreich, dem er zehn Jahre lang angehörte.
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