
© Julia Scheeler
Kultur: Dein Lippenstift lügt
Identität auf dem Catwalk: Der HOT-Theaterjugendclub hat am Sonntag Premiere mit „lipstick lies“
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Lippenstifte sind so typisch weiblich, dass sie bei Männern absolut deplatziert wirken müssen – wenn ein Mann einen Lippenstift benutzt, dann stimmt doch was nicht mit ihm, oder? Im Kontext von Theater, speziell Travestie, verzeiht man den männlichen Lippenstift vielleicht, da er eindeutig der Verkleidung dient. Aber Hand aufs Herz: Ein Mann, der mit Lippenstift an der Bushaltestelle steht – das ist doch kein Mann.
Mit dem Lippenstift hat der Theaterjugendclub des Hans Otto Theaters somit ein symbolträchtiges Objekt auserwählt, das sich auch im Titel wiederfindet: „lipstick lies“ heißt das Stück, das am Sonntag Premiere hat, übersetzt etwa „Lippenstiftlügen“. Denn das Schminken ist etwas, das in der Gesellschaft einzig und allein den Frauen vorbehalten ist. Wobei: „Schminkt man sich denn für sich selbst oder schminkt man sich für andere?“, fragt Annabel Cadeddu, unter deren Leitung in Koproduktion mit der Universität Potsdam das collagenhafte Stück über Geschlechteridentitäten entstanden ist. Und diese vorgefertigten Geschlechteridentitäten sind so randvoll mit Klischees, dass sie förmlich davon triefen– aber dabei überhaupt nicht wahrgenommen werden. Man muss sich ja schließlich entscheiden: Mann oder Frau?
Dabei gibt es sie noch zuhauf, diese Klischees, gerade auch in der Altersgruppe der 12- bis 15-Jährigen, die dieses Stück erarbeitet haben: in der Schule mit Lehrern, an öffentlichen Plätzen, an denen man als Mädchen angegraben wird, erst recht im Sport – es sei nichts Ungewöhnliches, dass beim Fußball Mädchentore doppelt gezählt werden, sagt Annabel Cadeddu. Sexismus heißt das Phänomen, dass man Menschen auf ihre Geschlechterzugehörigkeit reduziert – Jungs seien eben starke Beschützer, Mädchen schöne Prinzessinnen. In diese einfachen Kategorien lässt sich die Gesellschaft so oft aufteilen, dass die Rollen überhaupt nicht mehr hinterfragt werden.
„Ich wollte auf das Wort Feminismus im Stück ganz bewusst verzichten“, sagt Annabel Cadeddu. „Sonst haben die Menschen sofort Alice Schwarzer vor Augen und schalten ab.“ Aber warum nicht diese Rolle infrage stellen? „Geschlecht ist ja mehr als das, was wir sehen oder was wir sind – man guckt ja nicht jedem in die Hose“, sagt sie. Und ein bisschen schade sei es schon, dass sie das Stück nur mit Mädchen entwickelt habe – immerhin war ja zumindest am Anfang ein Junge dabei, der mitmachen wollte. Als er sich mit so vielen Mädchen konfrontiert sah, wird er wohl abgesprungen sein – jedenfalls kam er bald nicht mehr. Vielleicht ist das ja schon ein Hinweis darauf, welches Belastungspotenzial diese vorgefertigten Identitäten besitzen. Die Schwierigkeit des Themas sei der Regisseurin, die sich in rebellischen Subkulturen wie Punk, Hardcore oder der Riot-Girl-Bewegung der 90er schon immer am wohlsten fühlte, auch bewusst gewesen, sie habe sogar mit einem Aufschrei der Eltern gerechnet, wenn das Wort „Gender“ falle. Passiert sei aber nichts.
Die heutige Generation hat natürlich eine ganz andere Wahrnehmung als früher – eine Marilyn Monroe etwa wird unter einem anderen Schönheitsparadigma betrachtet: Eigentlich sehe die doch ziemlich dick aus. Und dass Körperbehaarung mal ganz normal war, sei heute völlig absurd. Eine Fernsehwerbung für Dr. Oetker aus den 70er-Jahren hat es sogar als Szene ins Stück geschafft: Wenn der Ehemann als Geldbeschaffer nach Hause kommt, hat die Hausfrau schon alles vorbereitet und sorgt sich um den Göttergatten, wie es ihre Aufgabe ist. Klar, man lacht sich über diesen Stereotyp des verkorksten Frauenbildes kaputt – aber ist das eigentlich noch lustig? Oder heute so anders?
Dass man Geschlecht gut mit Mode verbinden kann, weiß die Kulturwissenschaftsstudentin Annabel Cadeddu, die die Inszenierung als Abschlussprojekt für ihre Bachelorarbeit geplant hat: Neben ihrem Studium an der Potsdamer Uni und ihrer Arbeit am HOT arbeitet sie bei der Kette H&M, irgendwo muss die Kohle ja schließlich herkommen. Vielleicht hat dieser Job auch damit zu tun, dass das Stück auf einem Catwalk stattfindet, wie in einer Modenschau werden hier eben Geschlechterrollen präsentiert – auf eine ganz ironische Weise. „Mit dem Finger auf die Zuschauer zu zeigen, das wollte ich unbedingt vermeiden“, sagt Annabel Cadeddu. Sich selbst infrage zu stellen, das ist viel eleganter. Oliver Dietrich
Premiere von „lipstick lies“ am Sonntag, 17. Mai, um 18 Uhr in der Reithalle, Schiffbauergasse, erste Vorstellung am Montag, 18. Mai, um 18 Uhr.
Oliver Dietrich
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