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Kultur: Dem eigenen Sehen vertrauen

Offene Endprobe mit Zuschauerschule in fabrik

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Von allen Künsten wird dem Tanz vielleicht mit dem größten Unbehagen begegnet. Welche Bedeutung besitzen Bewegungen? Können sie dem Betrachter einen Sinn vermitteln, wie es Musik oder die Malerei vermögen? Der Tanz, im Ursprung zurückreichend auf vorkulturelle Wurzeln, in der Moderne häufig der Avantgarde zugehörig, wird oft nicht ganz verstanden. Ihm wird misstraut. Doch will es keiner zugeben.

Die „Zuschauerschule“, mit der die Tanzfabrik nun ihr Residenz-Programm des von der Kulturstiftung des Bundes geförderten „Tanzplans Potsdam“ begleitet, ist daher eine gute Sache. Selbst dann, wenn man sich fragt, ob es wohl der richtige Weg ist, den Zuschauer zur Kunst bewegen zu wollen und nicht umgekehrt. Aber das Konzept der fabrik kommt ohne Zeigefinger aus. Vielmehr soll Gelegenheit zum Dialog ermöglicht werden. Man darf Fragen stellen. Vorausgesetzt, man hat welche und traut sich.

Am Samstag kamen rund fünfzehn Schulungswillige, die zunächst eine Abschlussprobe unter der Choreographin Ina Christel Johannessen aus Norwegen beobachten durften. Johannessen sitzt vor der Tribüne an Computer und Mischpult, mit denen sie die Musik steuert. Daneben ihr Lichttechniker, der die Scheinwerfer auf der weiß ausgekleideten Bühne flackern lässt. Auch die Bühnenbildnerin ist zugegen. Drei Tänzer und eine Tänzerin haben unter Anleitung zwei Wochen an Johannessens neuestem Stück geprobt. Einziges Requisit ist ein altes hohes Turnpferd mit ledernem Polster.

Line Tormoen betritt den weißen Boden und beginnt, sich zu den Klängen einer Spieluhr zögerlich zu bewegen. Immer wieder sackt sie zusammen, ab und zu streckt sie die Hand zeigend aus. Der Zuschauer ringt mit seinen Vorurteilen, macht Anhaltspunkte aus. „Suche nach Orientierung“ oder „erwachsen werden“, könnte das bedeuten. Aber wie Musik da als Gerüst für einen komplizierten Bewegungsablauf eingesetzt wird, ist an und für sich, egal mit welcher Bedeutung, schon recht einnehmend.

Nächste Szene: Tormoen zieht sich einen klatschmohnroten Bademantel an und umklammert das Turngerät, sie streichelt es sogar, bevor sie sich aufschwingt. Irgendetwas mit Liebe wird da wohl gezeigt. Die drei Tänzer durchziehen derweil den restlichen Raum. Springen, drehen, wälzen sich. Aber alles elegant und ineinander verwoben. Die Musik ist ein flotter, elektronischer Beat mit ganz tiefen Bässen. Beinahe Disko. Man schaut zu, versinkt, und bald ist aus der geplanten halben eine ganze Stunde geworden.

Zeit für Erklärungen. Wie werden die Bewegungen erarbeitet? Ina Johannessen spricht nur Englisch, es muss übersetzt werden. Nein, sagt sie, sie tanze nicht vor, sie gebe den Tänzern nur eine Idee oder ein Gefühl, den Rest interpretieren sie selbst. Erstaunlich. Hat man doch gerade gesehen, dass in einer langen Szene, die wiederholt werden musste, die komplizierte Struktur beinahe exakt beibehalten wurde. Das Stück ergebe sich aus vielen Einzelszenen, die ganz langsam zusammen gebracht würden.

Wie werden eigentlich Bewegungen kommuniziert, vor allem so verschachtelte und elegante? Durch Vortanzen? „I don“t move“ – „Ich bewege mich nicht“, verneint die norwegische Choreographin lachend. Sie benutze dafür hauptsächlich Videoaufzeichnungen. Line Tormoen hätte von ihr für ihren Solotanz die Vorgabe bekommen, sich in einem Raum zu bewegen, der keine Richtung und keine Grenzen hat, in dem die Tänzerin nicht wisse, wohin. Aha, die Zuschauerschule bestätigt sogar das eigene Sehen. Vielleicht ist das der eigentliche Gewinn dabei. Mehr auf das eigene Sehen vertrauen.

Das Stück der Norweger, an dem hier in Potsdams „Residence“ gefeilt wurde, kommt im Oktober in Norwegen zur Aufführung. Bis dahin wird es sich noch verändern, sagt Johannessen.

Bei den Tanztagen im nächsten Jahr, ist sich deren Leiter Sven Till ziemlich sicher, wird es auch in der fabrik in Potsdam zu sehen sein.

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