Interview mit Georgette Dee über neues Stück am HOT: „Den Krieg feiern ist ein Tabu“
Georgette Dee lässt Helena von Troja, „die berühmteste Schlampe der Geschichte“, in ihrem Gastspiel am Hans Otto Theater aufleben – mit Chansons und der Weisheit von 5000 Jahren.
Stand:
Frau Dee, Ihr Stück, „Helena“, mit dem Sie am Sonntag ins Hans Otto Theater kommen, trägt den Untertitel „Plädoyer für eine Schlampe“. Ist eine Schlampe denn was Schlechtes?
Naja, das Stück ist ja von Miguel de Arco und deshalb aus dem Spanischen übersetzt. Da heißt es ja „zorra“, das ist mehr die Mischung aus Schlampe, Mistvieh – in dem Wort ist noch mehr Positives drin. Das war schwer zu übersetzen. Eine wirkliche Entsprechung gibt es im Deutschen nicht. Aber klar, die Frau heute kann sich selbst bestimmen – aber unter Aufbringung einiger Opfer. Das Eis der Selbstbestimmung in unserer Gesellschaft empfinde ich nach wie vor als dünn, vom Rest der Welt ganz zu schweigen.
Inwiefern?
Was die Freiheit der Frauen angeht. Nehmen wir mal die Kassiererin im Supermarkt. Das sind oft Frauen in meinem Alter, über 50. Ich bewundere das sehr, mit was für einer Geduld und stoischen Ruhe die ihre Arbeit machen. Das zeigt mir schon, wie weit es her ist mit der Befreiung der Frau. Denn wie viele Männer in diesem Alter sieht man an Kassen sitzen und sich ihr Geld verdienen?
ZUR PERSON: Georgette Dee, am 9. September 1958 in der Lüneburger Heide geboren, ist Kunstfigur, Sängerin und Schauspielerin.
Nach einer Ausbildung zur Krankenpflegerin begann sie ihre Karriere als Bühnendiva. Und seit sie 1981 in London den Pianisten Terry Truck kennenlernte, arbeiten die beiden immer wieder zusammen – am Wiener Burgtheater, im Pariser Odeon, in den Münchner Kammerspielen und in der Deutschen Oper Berlin sowie im europäischen Ausland.
Auch in „Helena. Plädoyer für eine Schlampe“, eine Inszenierung von Elias Perrig übrigens, stehen sie gemeisam auf der Bühne.
Also ist die Befreiung vor allem eine ökonomische Frage?
Das ist es sicher zum Teil auch, aber ich denke, es hängt auch damit zusammen, wie man sich wahrnimmt in der Gesellschaft. Ein Mann in dem Alter, der wenig Geld hat, arbeitslos ist, wird vielleicht eher zum Amt gehen als sich so einen Job zu suchen.
Inwieweit ist denn Ihr Stück – das ja eigentlich auf dem antiken Stoff um den Krieg von Troja basiert – auch ein aktuelles?
Helena von Troja – darauf bezieht sich auch der Untertitel – ist eine wahnsinnige Projektionsfläche. Unsere Dramaturgin, eine studierte Altgriechische, sagt, man kann wühlen wie man will – man findet über den Charakter dieser Person fast nichts. Im Vergleich zu anderen Figuren aus den Sagen dieser Zeit.
Die Schlampe als Role-Model
Ihre Schönheit ersetzt quasi ihren Charakter?
Nein, ihre ehemalige Schönheit war oft eher ein Fluch als ein Segen, und bis sie Paris trifft, ist das alles, was man an ihr wahrnimmt und über das sie sich definiert. Einer solchen Projektionsfläche jubelt man schnell alles unter, selbst die Schuld am Krieg von Troja. Und das ist es, womit meine Figur im Stück aufzuräumen versucht. Was natürlich ab einem gewissen Punkt total nach hinten losgeht.
Warum?
Was sie am Anfang von Zeus, der ja nun ihr Vater ist, verlangt, ist Gerechtigkeit. Es gibt aber die Sachlage auf der einen und ihr Empfinden dazu auf der anderen Seite, und ab einem bestimmten Punkt des Stückes gerät Helena emotional heftig zwischen die Mühlsteine dieser beiden Pole.
Helena war damals quasi ein Superstar. Wer wäre heute ein vergleichbares Role-Model?
Der Produzent kam irgendwann mit Fotos von Marilyn Monroe an und sagte, dieser leere Blick, der erinnere ihn so an Helena. Daraufhin habe ich mir nochmal die alten Sachen angeguckt, das Video, in dem sie für Kennedy „Happy Birthday“ singt, in diesem durchsichtigen Kleid, mit nichts drunter. Das ist bis heute derart skandalös und gleichzeitig atemberaubend.
Frauen und Machtpolitiker spielen in der klassischen Sage um Troja auch eine Rolle.
Was natürlich eine Domäne der Männer ist, das sagt Helena auch im Stück. Sie erkennt auch, dass sie aufs Ungeheuerlichste von diesen Machtpolitikern missbraucht worden ist.
Ein Leni-Riefenstahl-Flintenweib
Gibt es noch mehr aktuelle Bezüge?
Durch den Krieg im Nahen Osten schon, ja. Es gibt diesen Moment, da steht sie auf den Mauern Trojas und erlebt die letzten Schlachten noch einmal, in denen Hektor, Achil und auch Paris fallen. Da wird sie zur anfeuernden Furie, mit Leni Riefenstahl-Ästhetik, und sie gerät – sehr menschlich – in einen Kriegsblutrausch. Da reißt ihr völlig der humanistisch-zivilisatorische Faden.
Woher kommt das?
Weil die Situation eine Patt-Situation ist. Die Griechen sind unbesiegbar, Troja uneinnehmbar – seit zehn Jahren Leid und Elend überall. Sie will, dass es aufhört, natürlich möglichst siegreich, aber dass es aufhört, auch wenn sie sich für die Trojer entschieden hat.
Vor allem ja für Paris, den sie liebt und für den sie Menelaos verlassen hat.
Ja, und damit ist sie auch Trojerin, ja Symbol des Hochmuts der Trojaner. Aber eigentlich ist das natürlich ein Tabu – sowas macht man auf einer deutschen Bühne nicht: den Krieg feiern. Andererseits: Was löst das für Trauma aus, nicht darüber reden zu dürfen, obwohl man dabei war? Und die Großväter, die nichts anderes gemacht haben als zu Hause darüber zu schwadronieren, die haben jetzt die neue braune Soße produziert. Irgendwo bricht sich jedes Gefühl, alles Unbewältigte, Bahn.
Die Lösung ist, immer drüber zu sprechen?
Ja! Klar und deutlich. Dazu ist Theater schließlich da. Auch wenn es eklig ist.
Helenas Fluch ist, dass sie als Zeus-Tochter unsterblich ist – für das, was sie mit ihrer Schönheit angerichtet hat, aber nun ewig altern muss. Ist es ein Stück vor allem für Frauen?
Das ist für Frauen im speziellen und die Menschen im Allgemeinen der große Zorn: Dass all das hier irgendwann vorbei ist. Ich habe wenig zu diesem Text hinzugefügt – aber diesen Satz: „Unsterblichkeit, das ist genauso unvorstellbar wie Sterblichkeit.“ Das beschreibt eigentlich das Dilemma, das uns Menschen ausmacht.
Die Liebe ist schuld
Helena ist bei Ihnen eine alternde Diva?
Ja, sie ist stolz und eitel, würdevoll und wahnsinnig egoistisch. Eigentlich wirklich ein Miststück. Und auf gewisse Weise wahnsinnig naiv. Und stark. Kein Hauch im Wind, ein Zirkuspferd. Natürlich leidet sie unter alldem, was sie erlebt hat – im Alter von neun Jahren wird sie das erste Mal ein Jahr lang von Theseus, dem griechischen Superhelden, vergewaltigt, und keiner sagt etwas. Sie aber sagt: Was soll’s – ich hab’s überlebt.
Sie hat ihren Frieden damit gemacht?
Nein, sie ist als einzige seit 5000 Jahren übrig geblieben. Und jetzt macht sie dieses Fass nochmal auf – und es kommt zu viel hoch. Sie erinnert sich an diese wahnsinnig schöne Zeit, diese große Liebe zu Paris, das ist, wie wenn alte Menschen von früher erzählen – die reißt es dabei auch manchmal fast auseinander.
Dabei ist diese Liebe Schuld an all dem Schrecklichen, was passiert ist.
Ja, wobei das noch viel Schrecklichere vor Paris Tod passiert: Als Paris’ jüngster Bruder in der Schlacht auf grausamste Art vergewaltigt und getötet wird, zerbricht etwas in Paris. Er weiß ja, dass er die andere Hälfte des Grundes ist für diesen Krieg. Und so verlieren Helena und Paris ihre Liebe. Das ist auch das, wofür Helena in der Erinnerung keine Worte findet.
Die Liebe zerbricht im Kampf um die Liebe. Das ist auch etwas Universelles, oder?
Auf jeden Fall, und hier zerbricht die Liebe auch am Krieg. Der Grund, warum sie sich in Paris verliebt ist ja der: Sie ist es gewohnt, Titten und Arsch zu zeigen und jeder Mann verfällt ihr sofort. Paris aber kommt und guckt ihr in die Augen. Er sieht sie. Dieser Blick aber schießt sie in die Erkenntnis, bis dato nicht gelebt zu haben. Jetzt weiß sie zum ersten Mal, wie es sich anfühlt, geliebt zu werden. Und als es zerbricht, sagt sie: „Seit diesem Tag merkte ich, wie ich Paris verlor. Er schaute mich an – und sah mich nicht mehr.“ Da bekomme ich jedesmal fast selbst feuchte Augen. Diesen Moment – Fahrstuhlseil gerissen – kennt ja jeder. Und doch erzählt das Stück etwas darüber, warum es sich lohnt, sein Leben zu leben, zu welchem Preis auch immer.
Das Gespräch führte Ariane Lemme
Der Theaterabend mit Chansons von Georgette Dee als berühmtester Schlampe der Weltgeschichte ist an diesem Sonntag, 1. November, 18 Uhr, Hans Otto Theater in der Schiffbauergasse, zu erleben. Karten kosten 32 Euro.
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