
© HOT/HL Böhme
Kultur: Der Abgrund bleibt
In einer wüsten Lügenlandschaft: „Die Opferung von Gorge Mastromas“ in der Reithalle
Stand:
Am Ende hilft nur noch Physik. „Und keine Sekunde ist je dieselbe wie eine andere, das ist physikalisch unmöglich. Alles passiert wieder und wieder und wieder, aber jedes Mal anders. Es sieht vielleicht wie das Vergangene aus, aber es ist neu“, sagt Pete zu seinem Großvater Gorge. Doch sind diese Worte nicht wirklich an Gorge gerichtet, weil sie ihn gar nicht erreichen. Diese Worte sind viel mehr eine Art Selbstvergewisserung für Pete, damit er sich nicht in diesen schwarzen Abgrund ziehen lässt, als welcher sich sein Großvater offenbart.
Ein Leben galt es zu besichtigen am Freitag in der ausverkauften Reithalle bei der Premiere von „Die Opferung von Gorge Mastromas“. Ein Leben, das anfangs so bekannt banal verläuft, dass wir nur zu gerne über die vorhersehbaren Missgeschicke lachen, um ein wenig Distanz wahren zu können. Der Klassenliebling Paul wird zum Klassentrottel, gedemütigt, verachtet und vernichtet, doch Gorge hält zu ihm. Dann bietet sich die Gelegenheit mit Vanessa, seit Jahren der unerreichte Schwarm von Gorge. Nur eine leichte Bewegung mit dem Kopf und sein Mund hätte den ihren berührt. Doch Gorge entscheidet sich anders. Und später, da ist er Mitte 20, mit Tanya zusammen, sehr glücklich sogar, geht Gorge fremd, zeugt ein Kind, gesteht Tanya alles um dann wieder allein zu sein. Was für ein Trottel! Was für Würmchen! Was für ein Jedermann!
Dennis Kelly kennt keine Gnade mit seinen Figuren. Der britische Autor, der als einer der wichtigsten zeitgenössischen Dramatiker gilt, geht dahin, wo es weh tut. Er durchleuchtet gnadenlos, legt alle Abgründe offen, gräbt tiefer und tiefer auf seiner Suche nach der Wahrheit. Eine Wahrheit, die den Menschen erklärt. Ein Unterfangen, das nur scheitern kann. Das weiß auch Kelly. Doch er will verstehen, was den Menschen umtreibt, was ihn antreibt zu all den grausamen und irrationalen Sachen, die er tut. So sind seine Stücke immer nur Annäherungen. „Die Opferung von Gorge Mastromas“ dabei eine ganz besonders gnadenlose.
Am Anfang wird die Geschichte von Gorge erzählt. Bei seinem Potsdamdebüt hat sich Regisseur Elias Perrig nicht für einen, sondern sechs Erzähler entschieden. Alle Schauspieler, die im Laufe des Stückes noch eine Rolle spielen, kommen hier zu Wort. So entsteht nicht nur eine vielstimmige, sondern vor allem eine vielschichtige Erzählung über das Leben von Gorge Mastromas. Das Publikum haben keine Chance, sich zurückzuziehen. Die Schauspieler sprechen es direkt an und nicht nur die Bühne, auch der Zuschauerbereich ist beleuchtet. Und wenn einen auch das ständige Hin und Her der Erzählstimmen verwirrt, denn jede dieser Stimmen wirkt wie eine eigene Wahrheit, eine eigene Variation dieser Geschichte, reicht ein Blick auf die Bühne um zu wissen, dass hier der Abgrund lauert.
Marsha Ginsbergs Bühne ist ein Loch in einem Parkettfußboden. Eine Art Krater, in dem die Überreste aus dem Leben von Gorge Mastromas verstreut liegen. Zwei steinartige Gebilde ragen aus dem schwarzen, wie verbrannte Erde wirkenden Sand. Überreste von technischen Anlagen in diesem schon lange verlassenen Haus? Oder zwei Steinsärge für den frühen und späteren Gorge Mastromas?
Holger Bülow spielt diesen Gorge Mastromas, der sich mit Mitte 30 entscheidet, der Moral einen Tritt zu verpassen, um von nun an Lust im variationenreichen Spiel mit der Lüge zu finden. Und wie Bülow diesen Mastromas spielt! Ein Hexer der Ambivalenz, sympathisch weich und aalglatt, jämmerlich und durchtrieben, doch nie zu packen. Manchmal, da will man aufspringen und dieses Würstchen schütteln, das zum perfekten Geldspieler im enthemmten Kapitalismus geworden ist. Will man ihn anschreien, dass er endlich sein wahres Gesicht zeigen soll, das Bülow so wunderbar gekonnt in dem großen Maskenball des Gorges Mastromas’ immer nur gelegentlich, aber umso erschreckender aufblitzen lässt. Doch dieser Kerl weiß wahrscheinlich selbst nicht, was das sein soll, sein wahres Gesicht, sein wahres Ich.
Es ist ein gutes Gefühl, ein Glücksgefühl, Holger Bülow nach seinen zwei Jahren in Köln wieder als festes Ensemblemitglied auf der Bühne des Hans Otto Theaters zu erleben. Wie es bei all den Schauspielern in „Die Opferung des Gorge Mastromas“ ein Glücksgefühl ist, sie spielen zu sehen. In diesem kantigen und wüsten, manchmal arg plakativ wirkenden, doch in seinen Dialogen so subtil gezeichneten Menschen- und Gesellschaftsabgrundstück. Elzemarieke de Vos mit ihrer garstigen Karikatur einer neoliberalen, profitbesessenen Firmenschlachterin, die Gorge Mastromas das neue Leben in der Lüge offenbart. Eddie Irle als Sol, der ältere Bruder von Gorge, der, was das gesellschaftskompatible Erwartungslebensmuster betrifft, gescheitert ist, aber mit glühender Leidenschaft seine Kindheit verteidigt. Christoph Hohmann als ängstlich scheiternder Firmenbesitzer Martin, Alexander Finkenwirth als Enkel Pete mit dieser noch unerschütterlichen Portion Naivität die es braucht, wenn man glaubt, die Menschen verändern zu können. Und Zora Klostermann als Gorges’ Frau Louisa. Ein ständig aufgedrehtes und penetrantes, herrisches und alles kontrollierendes Wesen mit einer so erschütternden Vergangenheit.
Es ist gerade diese Vergangenheit, ein Abgrund von Kindesmissbrauch, den Gorge Mastromas auf perfide Weise in sein Lügengespinst verwebt, an der die Inszenierung ihre Kraft verliert. Würde sich dieser Abgrund aus dem Spiel ergeben, wäre der Absturz fatal. Doch durch die wiederholte Ansprache an das Publikum – „Sind Sie schon angewidert?“, „Sind Sie schon abgestoßen?“ – entsteht eine Distanz, die sich nicht mehr überbrücken lässt. Am Ende sitzt Gorge als alter Mann verlassen auf einem Stuhl im schwarzen Krater. Ob der frühe und gute oder der späte und bösartige Gorge Mastromas, er ist und bleibt ein Opfer. Das ist eine bittere und unangenehme Möglichkeit von Wahrheit, die in diesem Moment den Raum erfüllt. Es ist ein noch tieferer Abgrund, der sich nach den zwei Stunden im Abgrundleben von Gorge Mastromas auftut. Und ein Schlussbild, das sich regelrecht einbrennt.
Wieder am Freitag, dem 22. November, 19.30 Uhr in der Reithalle in der Schiffbauergasse
Dirk Becker
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