Kultur: Der besondere Blick
Der Regisseur Thomas Heise stellte seinen Film „Sonnensystem“ im Filmmuseum vor
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Unendlich lange scheint die Zeit gedehnt, bis sich ein Sonnenaufgang aus der dunklen Kinoleinwand schält, dessen Bilder mit dem Kitschidyll von Urlaubspostkarten nichts gemein hat. So beginnt Thomas Heises Dokumentarfilm „Sonnensystem“. Und nichts Geringeres als ein nachhaltig wirkender Blick in ein längst vergangen geglaubtes Universum ist es, was seine ohne Sprache auskommenden, aber bild- und tongewaltigen Beobachtungen vom Alltag der indigenen Gemeinschaft der Kollas von Tinkunaku in den Bergen Argentiniens gewähren.
Am Dienstagabend war „Sonnensystem“ in der Reihe „Aktuelles Potsdamer Filmgespräch“ zu sehen. Dass nur gut drei Dutzend Zuschauer ins Filmmuseum gekommen waren, mag auch mit einem Punkt zu tun haben, den das Gespräch, das Jeanette Eggert mit dem Filmemacher führte, gegen Ende berührte: Die Sehgewohnheiten, die in Deutschland, so meint Thomas Heise, vom Fernsehen gemacht werden und nichts weiter sind „als das, was den Zuschauern vorgesetzt wird und das sie denken, dass dies so sein muss.“
Der Film erzählt vom Leben der Kollas in Blanquito, einem auf 839 Meter gelegenen Tal und der Stadt Santa Cruz. Die Orte mit ihrer „Mischung aus Moderne und Elementen der Urgesellschaft“, so Heise, faszinierten ihn bereits als er sie das erste Mal besuchte. Sechs Wochen im Winter zu dritt und vier Wochen im Sommer nur mit Kameramann Robert Nickolaus verbrachte Thomas Heise dort. Auf die Frage, warum er dieses Mal nicht mit Peter Badel an der Kamera gedreht habe, verwies der Filmemacher auf die große physische Belastung der Dreharbeiten: „Ich wollte auch mit jüngeren Leuten drehen, weil es unglaublich anstrengend war. Wenn man hoch nach Santa Cruz will, muss man zweieinhalb Tage laufen, über den Pass, der viereinhalbtausend Meter hoch ist. Die Ausrüstung hatten wir auf dem Rücken. Für mich war das physisch absolut die Grenze.“ Auch zu dritt sechs Wochen in einem zehn Quadratmeter großen Haus zwischen Tieren zu „wohnen“ sei „nicht für jeden gemacht“, so Heise.
In langen Einstellungen, die oft aus der Distanz die Menschen in ihrer beeindruckenden Umwelt der Bergmassive und des Urwalds zeigen, beobachtet er eine Lebensweise, die für uns digital in den Schnelligkeitswahn getriebene Europäer jenseits aller Vorstellung liegt: Da laufen Hunde und Pferde allein durch das Dorf, finden mühelos ihren Weg. Ein umgestürzter Traktor wird unter körperlichem Einsatz aller Erwachsenen wieder auf seine vier Räder gestellt und den Hang hinauf gezogen. Ein Junge vermahlt mit einem Stein, der an einem Stock gebunden ist, Körner zu Mehl. Und gegen Schluss sieht man einen Mann bei heftigem Regen im Haus vor einem Fernseher sitzen, der mit einem lauten, alten Generator betrieben wird. Dem einzigen im Dorf, in dem es ansonsten weder Fernsehempfang, noch Zeitung oder gar Telefon und Internet gibt.
Nicht ausgespart wird ein sehr selbstverständlicher, archaische Umgang mit den Tieren, wie er unserer Zivilisation vielleicht noch stattfindet, aber weitestgehend aus der Wahrnehmung verdrängt ist: Sehr genau zeigt der Film wie ein Bulle kastriert wird. Und beim Schlachten und Zerlegen der Kuh hantieren die Menschen mit bis zu den Ellenbogen blutbeschmierten Armen. Die letzte Einstellung des Films ist eine Fahrt entlang der Großstadtslums, der Favelas, die einen metaphorischen Bogen spannt: Hier wird eines Tages die Ethnie der Kolla, eines kleinen Halbnomadenvolkes, verschwinden. Ihre Kultur wird verlöschen.
Heise hat den Film den Dorfbewohnern bereits vorgeführt. „Ist das schön“, sagten alle, weil sie die Schönheit ihrer Landschaft selbst gar nicht mehr sehen. Thomas Heise weiß: Er wird wieder hinfahren nach Santa Cruz. Auch, wenn er dort nicht mehr dreht. Susanne Klappenbach
Susanne Klappenbach
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