Kultur: Der Dichter auf dem Dach
Steffen Mensching läuft als entlassener Deutschlehrer im Varieté Walhalla „Amok“
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Wir befinden uns auf der Überfahrt von Kalkutta nach Europa, 1912. Es ist schwül und ermattend an Bord, das Meer liegt blau und leer, nur beim Sonnenuntergang wird es mit Farben übergossen. Steffen Mensching, ganz Schauspieler, spricht Stefans Zweigs Novelle „Der Amokläufer“. Das Publikum am Montagabend im Varieté Walhalla ist vom ersten Moment an gefangen, so sehr, dass es ein plötzliches Handyklingeln in Aufruhr versetzt. Mensching, offensichtlich aus dem Konzept gebracht, stockt, setzt neu an, bricht wieder ab, fordert den Besitzer auf, doch endlich abzuheben. „Wenn ich überhaupt etwas habe, dann ist es Geduld“. Die aber hat er gerade nicht. Es folgt eine Tirade über das Wesen von Mobiltelefonen und wir ahnen, es gibt kein Zurück auf Zweigs Überseedampfer.
Stattdessen nimmt uns der Autor und Kabarettist Steffen Mensching in seinem „Amok“-Programm – nun in der Rolle eines vorzeitig entlassenen Deutschlehrers – mit auf die Dächer der Stadt. Hier, sagt er, habe er den besseren Überblick, sähe keine Werbeplakate und könne den Ekel über die „Welt voller Skilehrer“ unter sich lassen. Die Häuserschluchten vor Augen kann Mensching seinen abgründigen Humor über das Publikum gießen. Einmal in Rage geredet, wechselt er in irrwitzigen Sprüngen die Themen, vermischt Anekdoten aus Dichterbiografien mit Erinnerungsfetzen aus der eigenen Kindheit. Gerade noch sitzen wir mit Erika Mann am Familientisch, schon dürfen wir uns Rilke in Uniform vorstellen, um kurz darauf glaubhaft vermittelt zu bekommen, dass Goethe im „Faust“ das üble Verfangen im heutigen Funknetz vorwegnahm.
Das Handy, erst vermeintlicher Störfaktor, hält nun alles zusammen. In der Hand des Deutschlehrers wird es zur „Granate“, die jeden Moment in die Luft gehen kann. Und die Anspannung nimmt zu, denn Mensching zieht das Tempo an. Mal ist er der leichtfüßige Akrobat, der Dichter auf dem Dach, dann wieder der verzweifelt wie energisch zitierende Pauker, der beide Zeigefinger hebt, um laut auszurufen: „Ich bin stolz ein Deutsch“ – Gedankenpause – „Lehrer zu sein.“ Und jeder Denkername, den er ausspricht, löst zwanghaft den eiligen Gang zur Tafel aus, auf die er die Lebensdaten hackt, dass die Kreide ächzt. Das matte Grün füllt sich mit Jahreszahlen. Wer sie einzuordnen weiß, dem öffnen sich neue Sichtfelder. „Doch erwarten Sie von mir kein optimistisches Weltbild – ich bin Deutschlehrer.“
Der rhetorische Amoklauf durch Literatur und Philosophie, durch Erlebtes und Ersonnenes hat einen Grund, auf den Mensching das erheiterte Publikum in Abständen hart fallen lässt. Ein Schüler stürzte vom Dach. Die dabei waren, liefen fort, informierten anonym nur die Polizei. Als der Lehrer seiner Klasse die Todesnachricht überbrachte und ein Schüler antwortete: „Na und, einer weniger“, schlug der Lehrer zu. Was ihm blieb, ist das Handy des Jungen.Antje Horn-Conrad
Antje Horn-Conrad
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