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Das Flötespielen auf einem Bein. Ian Anderson zeigte auch im Nikolaisaal immer wieder sein Markenzeichen.

© Manfred Thomas

Kultur: Der die Tigerin verführt

Ian Anderson mit seinem Jethro Tull Quintett und dem Filmorchester Babelsberg im Nikolaisaal

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Es liegen keine würzigen Schwaden von Rauschmittel in der Luft. Auch sonst geht es im lange ausverkauften Nikolaisaal sehr gesittet zu. Wie sein Publikum hat auch Ian Anderson, der Star des Abends, die Jugend längst hinter sich. Doch bei seinem bejubelten Konzert schlägt der Gründer der legendären Rockband Jethro Tull dem Alter ein Schnippchen.

Er lässt nicht lange auf sich warten. Im Hintergrund der Bühne sitzen brav aufgereiht die Musiker des Deutschen Filmorchesters Babelsberg, davor stehen die vier Musiker, mit denen Ian Anderson in diesem Jahr durch die Welt tourt. Kaum haben sie ein paar rockige Akkorde gespielt, öffnet sich die seitliche Bühnentür und es erscheint der Meister mit der Querflöte. An die Stelle der engen Strumpfhosen und der bunten Fräcke sind Jeans, T-Shirt, Weste getreten. Das markante, einst von wilden Locken bekränzte Haupt ziert ein Bandana-Tuch, was ihm etwas Piratenhaftes verleiht. Mehr als vierzig Jahre steht Ian Anderson auf internationalen Rockbühnen. Dabei könnte er sich längst zurückziehen und auf seinen Lorbeeren ausruhen. Aber er ist auch mit 64 Jahren noch fit und hat augenscheinlich viel Spaß daran, die überwiegend alten Stücke aus der Rockmusik-Vergangenheit aufzuführen.

Während des Konzerts tänzelt er um seine Musiker, gibt Fußtritte in die Luft und zeigt natürlich immer wieder sein Markenzeichen, das Flötespielen auf einem Bein, ganz ohne Wackeln. Beim Klang der E-Gitarre von Florian Opahle geht er gar auf die Knie und wirft sich mit vielfachen Verbeugungen wie ein orientalischer Dienstbote auf den Boden. Auch für deftigen, ironisch gewürzten Spaß ist Ian Anderson immer gut. Zudem sieht der junge Münchner Gitarrist mit dem langen Blondhaar nicht nur aus wie ein junger Rockstar. Auf seiner Gibson Les Paul-Gitarre spielt er auch wie einer, besonders bei seiner Trash-Metal-Version des alten Tull-Klassikers „Toccata und Fuge“ von Bach. Komplettiert wird das Jethro Tull Quintett von John O’Hara an Keyboard und Akkordeon, der gleichzeitig die Einsätze für das Filmorchester gibt. Das Bassfundament legt David Goodier, cool und gelassen, wie es sich für einen Bassisten ziemt. Scott Hammond spielt Schlagzeug und Percussion mit locker-festem Zugriff. Am Rande hinter Mischpulten und Computern sitzt Mike Downs, zuständig für Sound Design. Auch eine akustische Rockband wie Jethro Tull kommt ohne die digitalen Errungenschaften nicht mehr aus.

An den Anfang des Reigens aus vielen alten und ein paar neueren Jethro-Tull-Stücken hat Anderson, wohl nicht ohne Ironie, den Titel „Living in the past“ gesetzt. Dazu spielt er Ukulele und singt mit krächzender Stimme. Die Stimme, für die Anderson mindestens so berühmt ist wie für sein Flötenspiel, klingt zwar unverkennbar, wirkt aber zugleich noch knarziger. Es ist eine Art Sprechgesang, mit dem Anderson wie ein Nachfahre schottischer Barden seine Texte vorträgt.

Nach dem furiosen Beginn stellt Anderson „die andere Band“ auf der Bühne vor, das Babelsberger Filmorchester, aus dem er sich gelegentlich Solisten holt, wie Heiko, den Soloflötisten. Mit ihm spielt er „Grimminelli’s Lament“, ein romantisches Instrumentalstück aus seinem Solo-Album „Rupi’s Dance“, das keltische und barocke Einflüsse verbindet. Für das groß angekündigte Geburtstagspräsent für einen anderen Flötisten von Rang, Friedrich II., müssen die ersten Takte aus einem Flöten- und Fagott-Konzert von Johann Quantz vermischt mit einem „Happy Birthday“ reichen, gerade einmal eine Minute und drei Sekunden lang, wie Anderson selbst ankündigt – auch ein Statement.

Erst bei den Jethro-Tull-Klassikern „Aqualung“ und „Locomotive Breath“ kommt Ian Anderson auf Hochtouren. Gerade da zeigt sich sein Alleinstellungsfaktor. Keiner sonst bläst so rau, so exzentrisch, so entfesselt die Querflöte. Ian Anderson gurrt, faucht, brabbelt und miaut darauf wie ein indischer Halbgott und Magier, der einen wilden Tiger, oder besser eine Tigerin, zähmen und verführen will. Die passende Gestik liefert er mit der Flöte gleich dazu, wie einst in den Zeiten, als noch die Devise galt: „Make love not war!“ Die Babelsberger Musiker haben nicht viel zu tun, außer im Gleichtakt unisono süffige Streicherwogen zu produzieren oder selten einmal mit Holzbläsern und Blechfanfaren auf sich aufmerksam zu machen. Man könnte auch sagen, dass sie nicht stören. Nach prallen zwei Stunden endet das Konzert – mit großem Beifall zwar, aber eben auch mit einem geordneten Rückzug von Musikern und Publikum. Bei aller Lebenslust, die die Musik immer noch verströmt, haben die Jahre doch unverkennbar Spuren hinterlassen.

Babette Kaiserkern

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