Kultur: Der Drill in einem Männer-Büro
Die Leipziger Choreografin Heike Hennig zeigt bei den Tanztagen in der fabrik ihr Stück „Estha“, in dem es um Macht und Ohnmacht geht
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Die Leipziger Choreografin Heike Hennig zeigt bei den Tanztagen in der fabrik ihr Stück „Estha“, in dem es um Macht und Ohnmacht geht Sie reisen zu den Potsdamer Tanztagen mit vier Männern an. Das klingt erst einmal nicht so spannend. Ich habe Tänzer zusammengebracht, die aus ganz unterschiedlichen Richtungen kommen: aus dem zeitgenössischen Tanz, dem klassischen, aus der Artistik und vom Stepptanz. Schon allein diese Mischung ist interessant. Ihr Stück, das sie heute und morgen in der fabrik vorstellen, heißt Estha. Tanzen vier Männer um eine imaginäre Frau? Estha ist ein indischer Männername und eine Figur aus dem Roman „Gott der kleinen Dinge“, der mich sehr gefesselt hat. Estha ist ein kleiner Junge, der hin- und hergerissen ist zwischen dem traditionellen Kastensystem und der westlichen Kultur. Er wird dabei immer stiller. Ihm ist das Stück gewidmet. Allerdings nur der erste Teil, ein Duett, mit dem wir gerade in China und Athen zu Gast waren. Im zweiten Teil haben wir nun die Folie aufgezogen und uns dem Thema Machtstruktur zugewandt. Warum Macht speziell unter Männern? Ich habe eine Woche Männern bei der Arbeit im Büro zugesehen, erlebt, wie sie sich ganz gehorsam dem Drill unterwerfen. Das war hoch interessant. Dieses akkurate Funktionieren in Schlips und Kragen habe ich versucht, in reduzierte synchrone Bewegungen umzusetzen. Das mag manchem Zuschauer witzig erscheinen, ist aber eher absurd. Wie haben Sie sich mit den Tänzern diesem Thema genähert? Erst einmal lasen wir den sehr lyrischen „Gott der kleinen Dinge“, dann die strengen Diskurse von Foucault über Strafen und Überwachen. Schließlich näherten wir uns über Improvisation den eigenen Erinnerungen und steckten schnell drin im Wechselspiel von Macht und Ohnmacht. So begegnen sich auf der Bühne zwei Tänzer, die sich freundlich anlächeln. Das kippt um in Scheinheiligkeit. Schließlich bringt der eine den anderen zu Fall, aus Hilflosigkeit. Diese Szene hat einen ganz persönlichen Hintergrund. Ist es schwerer mit Männern auf der Gefühlsebene zu arbeiten als mit Frauen? Ich habe selbst drei Söhne, lebe sozusagen in einem Männerhaushalt. Dadurch war vielleicht schon ein lockeres Herangehen gegeben. Jedenfalls war ich erstaunt, wie viel diskutiert und ausgesprochen wurde. Die Auffassung, dass Männer viel verdrängen, hat sich nicht bestätigt. Was faszinierte Sie besonders in der Arbeit mit Männern? Ihre Kraft. In der Choreografie spielen vier sehr große Stahlquader eine Rolle. Diese verwandeln sich immer wieder: werden zum Bett, Tisch, Tor, Sarg oder zur Zelle. Mal fliegen die Tänzer über diese Kisten, mal werfen sie sich diese schweren Teile zu. Rein physisch fand ich ihre Power schon überwältigend. Wenn ich allein vom Zuschauen langsam erschöpft wurde, wollten sie immer noch weiter proben. Welchen Part spielt die Musik? Unser Sound reicht vom eingesprochenen Wort, über percussiven Flaschensound – der im „Bordell“ den Verkauf von Fleisch untersetzt – bis jazzigen Gesang und Drum“n“ Bass von DJ Booga. Bedrückend, fast gruselig wird es, wenn sich die eingesprochenen Worte ins Publikum zielen. Etwa so: Die Frau aus Reihe 18, Platz 22, hat gerötete Wangen. Da wird die Theorie Foucaults, alle werden überwacht, sehr fühlbar. Haben Sie Neues über Männer erfahren? Dazu bin ich noch zu nah an der Arbeit dran. Zum Reflektieren braucht es Zeit. Das Gespräch führte Heidi Jäger.
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