Kultur: „Der Familienschoß ist wie ein Grab“
Frauenkulturtage: Tragikomödie von Krolkiewicz
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„Wo hat denn das Ähnlichkeit mit Papa, was wir da vor uns sehen?“, fragen sich die Töchter, als sie ihren Vater im Rollstuhl aus dem Altersheim abholen. Ede feiert heute seinen 90. und die Töchter hoffen, dass es sein letzter ist. Doch jetzt gilt es erst einmal, diesen über die Runden zu bringen. Auch wenn alle wissen: „Familienfeste sind am schönsten, wenn alle besoffen sind und der Abwasch gemacht ist.“ Dennoch soll alles so sein wie immer. Dora backt Zuckerkuchen und sich bloß nicht einfallen lassen, etwas anderes auszuprobieren. Vielleicht gar Obstkuchen, und am Ende kriegen alle die Scheißerei. Nichts da, Lene macht ihrer Schwester Dora eine klare Ansage. Und auch die ist nicht zimperlich, wenn es darum geht, die andere zu pisaken.
Ralf-Günter Krolkiewiczs Stück „Sonst is alles wie immer“, das am Donnerstag bei den Frauenkulturtagen in der Schinkelhalle gut besucht zu sehen war, ist eine bitterböse Volkstheater-Satire, die den Leuten aufs Maul und noch viel mehr in die finstersten Winkel der Seele schaut. Hier wird nichts beschönigt, vielmehr ein Familienfest zelebriert , das alle Bosheiten und Besonderheiten unsanft aufeinander prallen lässt. Und die Familie ist voll davon: der eine ist fresskrank, der andere pinkelt immer ein, einer ist widerlich ordinär, die andere lesbisch. Da lässt es sich natürlich trefflich übereinander herfallen.
Doch der Bogen dieser Tagikomödie ist weiter gespannt: In der von Regisseur Hans-Joachim Frank flott und prall in Szene gesetzten „theater 89“-Produktion fallen die schroffen Krusten der vier Schwestern nach und nach ab und man spürt, dass die rauen Schalen verletzte Seelen ummanteln. „Wir alle haben ein übergroßes Verlangen, eine große Lust, die sich nie erfüllte. Das hat uns krank gemacht und keiner gibt es zu“, sagt die von Simone Frost wunderbar zupackend gespielte Lene, die sich auch gern in die Stille ihrer Schwerhörigkeit flüchtet.
Am Ende wirkt der Tod des Demenz kranken Vaters wie ein Befreiungsschlag. Endlich wird ausgesprochen, was die Familie als ihr großes Geheimnis hütete und was sie so krank gemacht hat. Tochter Rosie (Siegrid Richter) wurde von ihrem eigenen Vater geschwängert. Das Ergebnis war Olaf: Der ungewollte, ungeliebte Sohn, der tump und grob zwischen seiner ebenfalls abgestumpften Mutter und ihrer lesbischen Freundin lebt. „Es ist zum Kotzen“, wiederholt er immer wieder und lässt sich zum Geburtstag natürlich auch wie immer zulaufen. Seine Aggression reagiert er diesmal bei Jacek, dem Polen, ab, den Tante Lisbeth (Heike Jonca) angeschleppt hat. Jacek macht in Zigaretten, sagt die aufgemotzte Lisbeth, die mit blonder Perücke erscheint. „Oben wie die Monroe, unten wie altes Leder“, lästert Lene. Doch der Aufreißer Jacek (pointiert Maximilian Wolff) schaut plötzlich der etwas jüngeren und nicht so abgeklapperten Dora tiefer in die Augen. Die kriegt gleich ganz weiche Knie – was Angelika Perdelwitz in einer Mischung von Prinzipientreue und Begierde bestens auszubalancieren versteht.
Und plötzlich gibt es in dieser Familienhysterie auch schöne Momente: Hausmusik mit Katzenjammer. Lello, der Zigeuner (tief traurig: Bernhard Geffke) spielt zum Tanz auf, „und tanzen ist, als wenn man lebt.“ Lello ist allerdings mehr zum Heulen zumute. Schließlich ist seine Frau schwerkrank. Doch auch in dieser schön gezeichneten Poesie der beiden Liebenden gibt es Kratzer. Konflikte, wohin man schaut – ob unterschwellig oder drastisch hervor springend. Wenn am Ende Olaf (Stefan Kowalski) zum Messer greift und auf Jacek einsticht – ist man nicht überrascht. Auch in der Inszenierung geschieht das fast beiläufig. Dem Spiel folgt ein Epilog: die Schwestern schauen Jahre später noch einmal auf ihr Leben zurück. Sie sind milder zu sich und auch ein bisschen zu den anderen geworden. Dora hat sich sogar verliebt, doch sie hat Angst vor dem erneuten Verlust und fährt schon wieder ihre Krallen aus ... „Der Familienschoß ist wie ein Grab,“ heißt es in dem dialog- und charakterstarken Stück, das deftiges Schauspielfutter bietet und im Theater eine blutvolle Umsetzung fand.
Zu sehen am 3./4. November, 20 Uhr, theater 89, Berlin-Mitte, Torstr. 216.
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