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Kultur: Der ganz normale Wahnsinn

Gymnasiasten spielten Schimmelpfennig

Stand:

Licht an. Erste Szene: Ein Mann schreckt aus dem Schlaf. Träumt er? Eine fremde Frau steht vor seinem Bett. „Ich bin hier um dich zu warnen! Nimm dich in acht vor dem langen Mädchen. Nimm dich in acht vor der Giraffe.“ Was für eine seltsame Prophezeiung. Licht aus. Zweite Szene: Berlin. Greifswalder Straße. Eine Baustelle. Licht aus. Nächste Szene: Alltag. Ein Gespräch irgendwo. Alle reden. Keiner hört sich zu. Momente aus dem Leben einer Großstadt. Klick, Klick, Klick. Unerbittlich wirft der Diaprojektor die nächste Szene an die weiße Bühnenwand.

Es ist kein leichtes Theaterstück, welches sich die Schüler der 13. Klasse des Evangelischen Gymnasiums Hermannswerder ausgesucht haben. Roland Schimmelpfennigs Stück „Auf der Greifswalder Straße“ ist ein verstörendes, metaphysisches Großstadtmärchen. Ohne Happy End. Scheinbar zusammenhangslos rattern die Szenen durch die Zeit. Menschen kommen und Menschen gehen. Absurde Geschichten finden sich am Wegesrand. Ein Mann verliebt sich in ein viel zu junges Mädchen, genannt Giraffe, welches ihn am Ende des Stückes aus Verfolgungsangst abknallt. Drei Trinkbrüder schießen im Suff die Sonne vom Himmel, weil diese partout nicht sinken will. Ein Mädchen wird von einem Hund gebissen, der wie ein Wolf daherkommt. Hier passt nichts zusammen und doch sind alle vereint – im Leben.

Roland Schimmelpfennig schrieb die mystische Milieustudie 2006, mit offensichtlichem Lokalbezug, als Auftragswerk für das Deutsche Theater (DT) Berlin. Wie die Schüler vom Templiner See auf die Greifswalder Straße kommen? Ein Mitstreiter aus dem „Darstellendes Spiel-Projekt“ der Schule hatte das Stück vor einiger Zeit am DT gesehen und schlug es deshalb zur Bearbeitung vor. Alle waren begeistert: „Vor allem der aktuelle Zeitbezug und das ,Normale’ der Sprache reizte die Schüler“, erzählt die Deutschlehrerin, die das Stück mit der Theatergruppe am Donnerstag zur Aufführung brachte.

Um die Szenerie so authentisch wie möglich zu gestalten, haben sich die jungen Schauspieler im Vorfeld an den Ort des Geschehens begeben. Auf der Greifswalder Straße in Berlin haben sie den Kontakt mit den Passanten gesucht und Fotos geschossen, die nun den Hintergrund für ihr Stück bilden. Der Diaprojektor wirft die visuellen Mitbringsel an die Bühnenwand. Vietnamesischer Imbiss trifft auf Tätowieranstalt. Aldi auf Versicherungsbüro. Spätkauf auf Eckkneipe. Ein trostloses Spiel.

Die gewonnenen Eindrücke sollten den Darstellern außerdem helfen, sich in die verschiedenen Rollen hinein zu fühlen. Denn das Stück lebt vordergründig von seiner Atmosphäre. Vielleicht fehlt es dem ein oder anderem in dieser Hinsicht noch etwas an Lebenserfahrung. Es gelingt nicht allen Darstellern die Stimmung der einzelnen Szenen eindrücklich heraus zu schälen und die Tragik der verschiedenen Charaktere zu verdeutlichen. Um die Aura von Schimmelpfennigs Stück gegenwärtig werden zu lassen, braucht es kantige Originale. Die Gymnasiasten tun sich stellenweise schwer damit. Denn schließlich kann auch nur der tief spielen, der ebenso tief fühlt. Trotzdem verdient die mutige Auswahl des Stückes Anerkennung. Die Beschäftigung mit aktuellen Problemen und gesellschaftlichen Randfiguren, hat das Bewusstsein der Zuschauer und sicherlich auch das der Darsteller am Ende um einige Facetten erweitert.

Eine lohnende Vorstellung für alle, die sich auf den ganz normalen Wahnsinn einlassen können.Philipp Kühl

Philipp Kühl D

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