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Kultur: Der gelähmte Ikarus
Mit „summertime“ fragt der Jugendclub des Hans Otto Theaters nach dem Mut für Veränderungen
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Ikarus breitet seine Flügel aus und schwingt sich in die Lüfte. Immer höher, immer weiter im Rausch der Freiheit. Nahezu nichts kann ihn stoppen. Bis er sich zu weit vorwagt, zu hoch fliegt und sich die Flügel verbrennt. Niemand kann ihn vor dem tiefen Sturz bewahren. Der Mythos um Ikarus ist seit der griechischen Antike bekannt. In „summertime“, der neuesten Produktion des Jugendclubs des Hans Otto Theaters, wird seine Geschichte aufgenommen und er zum Sinnbild einer ganzen Generation gemacht. Einer Generation zwischen Realität und Theorie. Am morgigen Samstag feiert das Stück in der Reithalle Premiere.
Irgendwie scheint die Welt nicht ganz in Ordnung zu sein. Doch wer hat den Mut, etwas zu ändern? Das zu bewegen, was wirklich wichtig ist? „Unsere Generation der 20-Jährigen ist fast überall davon geprägt, dass alle viel reden, aber nichts tun“, sagt Johannes Lotze, der gemeinsam mit Rike Nölting die Leitung des Stücks innehat. „Wir stehen häufig zwischen dem Leben, das wir in der Realität führen, und der Alternative, die es nur in der Theorie, in unseren Träumen gibt. Aber beides ist irgendwie nie ganz richtig.“ Den Ikarus ihres Stücks lassen Rike Nölting und Johannes Lotze genau zwischen der Realität und der Alternative in Untätigkeit erstarren. Seine Beziehung, das alltägliche Leben, läuft nicht gut, aber auch seine Affäre, die Alternative, scheint auch nicht das Richtige zu sein. Sich dessen bewusst ist er zwischen Bequemlichkeit und Machtlosigkeit gefangen, die ihn zur Tatenlosigkeit verdammt. Erst als alles zusammenbricht, vermag er sich aus dieser zu befreien. Und um sich vor dem ganz großen Absturz zu bewahren, muss der bis dahin flügellahme Ikarus endlich selbst tätig werden.
Durch die gemeinsame Arbeit mit vier Schauspielstudenten der Schauspielschule Charlottenburg ist aus der anfänglichen Idee ein Stück entstanden, das zwischen einer Anklage, einer Aufforderung und der simplen Situationsbeschreibung variiert. Einen Wahrheitsgehalt stellen die beiden Literaturstudenten Johannes Lotze und Rike Nölting an „summertime“ jedoch nicht. Sie versuchen in ihrem Stück die alltäglichen Erfahrungen zu verarbeiten. Darum kann das Publikum sich selbst sehr gut in den wohlbekannten Situationen wiedererkennen. „Der Zuschauer muss sich immer wieder selbst hinterfragen, wir wollen nichts vorschreiben“, sagt Lotze. Obwohl er selbst den Holzhammer lieber ein wenig mehr geschwungen hätte. „Wir hätten die Themen des Stücks gern noch direkter rübergebracht. Aber unsere Schauspieler wollten die Zuschauer nicht zu sehr vor den Kopf stoßen.“ Die verschiedenen Zugänge, die ein solches Thema eröffnet, führten auch in der knapp zweimonatigen Probenzeit zu immer wieder interessanten Entwicklungen. Mit viel Fingerspitzengefühl widmen Rike Nölting und Johannes Lotze sich ihrer ersten Theaterarbeit. Dafür bot der Jugendclub des Hans Otto Theaters den beiden die beste Chance, ihre Idee an einem Theater praktisch umzusetzen. „Die Produktionen des Jugendclubs sind immer eine Art geschützter Raum, in dem man sich ausprobieren darf.“ Johannes Lotze ist begeistert von der Möglichkeit. Nirgends sei das so problemfrei möglich wie am Hans Otto Theater, vor allem nicht in Berlin, so der Student der Freien Universität. Und obwohl es durchaus auch stressige Phasen gab. „Aber die Arbeit an vielen Fronten wurde uns abgenommen und wir konnten uns gut auf das Stück an sich konzentrieren“, sagt Rike Nölting.
Die große Tatenlosigkeit einer ganzen Generation ziehen Rike Nölting und Lotze in „summertime“ am Thema der Bekleidungsindustrie auf. Durch die wachsende Globalisierung sehen sie gerade die heutige Generation noch mehr in der Verantwortung, etwas zu tun und gegen Ungerechtigkeiten vorzugehen. „Wir sind die erste Generation, die in dem Wissen aufwächst, alles zu haben und alles machen zu können. Als freie Menschen haben wir dadurch aber auch eine größere Verantwortung“, sagt Rike Nölting. Die Kinderarbeit in der Textilindustrie und die billige Produktion von Kleidung in Asien, die auf dem deutschen Markt zu Spottpreisen verkauft wird, dienen ihnen dabei jedoch lediglich als Beispiele. Ihr Ansatz kann auf alle möglichen Themenfelder übertragen werden. „Jede Generation hat so ihre Kämpfe auszufechten, aber dieses Thema ist absolut aktuell und betrifft alle.“ Seine Einstellung zu manchen Themen hat sich durch die Arbeit an ihrem Stück für Johannes Lotze noch einmal verstärkt. Kleidung mit dem Label „Made in Bangladesh“ will er in seinem Schrank nicht mehr haben. Das Bewusstsein der Menschen sei schon da, aber kaum einer sei bereit, etwas zu opfern.
In der Kraft der Entscheidung und der Möglichkeit, zu handeln, sieht Johannes Lotze auch die Parallelen zum Ikarus-Mythos. Bei der Gestaltung ihrer Hauptfigur diente dies als Leitmotiv und soll sich unterschwellig auch durch das ganze Stück ziehen – Ikarus als Prototyp einer Generation, die von ihrer eigenen schreienden Sprachlosigkeit geplagt wird. So wollen Rike Nölting und Johannes Lotze einen Anstoß geben, daraus auszubrechen. Beide hoffen, dass sie sich bei ihrem ersten Ausflug in die Welt des Theaters nicht die Flügel verbrennen und rettungslos abstürzen. Chantal Willers
Premiere von am morgigen Samstag, 19.30 Uhr, in der Reithalle in der Schiffbauergasse. Karten unter Tel.: (0331) 98 118
Chantal Willers
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